Langsam und gedankenvoll schritt Prisca heute durch die Arkaden und nickte ihren alten Freunden an den Wänden zu; heute mit ganz besonders zärtlicher Liebe, mit einem ungewöhnlich starken Gefühl geistigen Eigentumsrechtes.
Denn seitdem sie am Zentralbahnhof Kasse fünf, Richtung Rosenheim-Kufstein, aus des Beamten eignem Munde erfahren hatte, daß ein Billett von München nach Rom nur sechsundfünfzig Mark kostete – dritter Klasse natürlich! –, fühlte sie sich bei sämtlichen Rottmann, von dem idyllischen Trento angefangen, bis tief hinunter zu den zerstörten Tempeln von Selinunt, bereits vollkommen zu Hause, gewissermaßen an diesen sämtlichen klassischen Stätten bereits wohnlich eingerichtet. Sie konnte gar nicht begreifen, daß München so bevölkert war, daß ganze Scharen von Künstlern hier lebten, wenn doch ein Billett von München nach Rom nur sechsundfünfzig Mark kostete!
Und daß sie selbst immer noch da war!
Weshalb hatte sie seit drei vollen Jahren durch halbe Nächte Geburtstags- und Neujahrswünsche gemalt, Tisch- und Tanzkarten entworfen und für Haarwasser und Zahnbürsten bunte Riesenplakate verfertigt? Denn wer sich erst das Brot verdienen muß, damit seine Kunst überhaupt erst nach Brot gehen kann, der darf sich nicht stolz in die Brust werfen: » Anch' io son' pittore!« Oder vielmehr: er darf es tun, wenn er nebenher das ehrliche Kunsthandwerk nicht verschmäht.
Prisca übte es, wie gesagt, halbe Nächte hindurch, um dafür am Tage mit ruhigem Gewissen vor ihrer Staffelei sitzen zu können. Hätten Leinwand und Farben nur nicht die unangenehme Eigenschaft gehabt, Geld zu kosten, von den Rahmen gar nicht zu reden! Noch dazu von den modernen Rahmen, die möglichst originell sein sollten, damit wenigstens sie die Blicke auf sich zogen. Und wenn Prisca auch die unmodernsten für ihre Bilder auswählte, so waren diese glitzernden Goldleisten immerhin noch teuer genug. Und dann die Pension bei dem guten Glöcklein! Sie war eigentlich winzig; und jedesmal, wenn Prisca mit ihrer kleinen Wirtin sich zu Tisch setzte, schämte sie sich der zwerghaften Summe und ihres Riesenappetits. Sie wollte mit Gewalt mehr zahlen, um mit einer würdigeren Empfindung mehr essen zu können. Aber das Glöcklein hub jedesmal, so oft die Sache zur Sprache kam, ein wahres Höllengebimmel an, so daß die Pensionärin schließlich Nein beigeben mußte.
Jeden Tag nahm die gute Prisca sich vor, nicht gar so »gräßlich« viel zu essen. Ihr gesunder Hunger ließ sie jedoch täglich von neuem die Entdeckung machen, daß sie zur Aszetin und Säulenheiligen nicht das mindeste Talent besaß. Also aß sie, und es schmeckte ihr prächtig. Und wenn sie einmal über ihren vorzüglichen, zweiundzwanzigjährigen Appetit allzu heftige Gewissensbisse empfand und sich kasteien wollte, so begann das Glöcklein umgehend mit seinem silberhellen Stimmchen so jammervoll zu lamentieren, als sollte Prisca demnächst eines gewaltsamen Hungertodes verbleichen. Also aß sie!
Trotz der Ausgaben für Leinwand, Farben, Rahmen, Kleidung, Lebensunterhalt und andre Notwendigkeiten, einige bescheidene Freuden mit eingerechnet, war es Priscas unermüdlichem Fleiß gelungen, ein bescheidenes Sümmchen zusammenzusparen, davon ein Billett nach Rom, allerdings nur in der dritten Klasse, sich bestreiten ließ, und das auch noch ein kleines Weilchen weiter reichen würde. Aber die nüchterne und praktische der beiden Seelen in ihrer Brust gebot ihr streng: ›Höre, liebe Prisca, du wirst nicht eher nach Rom gehen, als bis du sichere Aufträge und feste Bestellungen erhalten hast. Früher nicht einen Schritt hinein in dein gelobtes Land, meine junge Dame! Mag deine zweite, phantastische, einfach unzurechnungsfähige Seele auch noch so verführerisch locken und winken; ich behalte die Oberhand!‹
Fräulein Priscas zweites liebes ich ließ nach solchen strengen Worten den Kopf hängen, seufzte, schmollte, wagte wohl gar heftige Widerreden, zog jedoch stets den kürzeren.
Sogar mit Hungernmüssen hatte die wirklich unangenehm nüchterne und verständige Seele gedroht. Es war wahrhaftig eine unerträglich hausbackene Seele! Prisca schämte sich beinahe, ein solch philiströses andres Selbst in ihrem Busen zu tragen. Gott sei Dank, daß Seele Nummer zwei noch da war, deren Zeit schließlich auch einmal kommen würde. Prisca vermochte sich vieles vorzustellen; aber daß der Mensch in Rom Not leiden und Not fühlen könnte, das ging für sie über alle Vorstellung. Für sie war Rom gleichbedeutend mit Glanz und Glück ohne Ende, mit Blühen und Sonnenschein ohne Aufhören. In Rom graue Tage, in Rom traurige, trostlose Wochen! In Rom von des Lebens Jammer gepackt werden! Am Tiber genau ebenso leiden, darben, krank sein, sterben, wie man an der Isar litt, darbte, krank wurde und schließlich starb – sie konnte sich das eben nicht vorstellen...
»Nein, dieser alte, närrische Kauz!«
Prisca hörte eine junge, frische Männerstimme, ein herzliches Lachen, blickte auf, um sich den »alten, närrischen Kauz« auch anzusehen, sah aber nur zwei junge, lustige Herren, die vor ihr herschlenderten und die Fresken betrachteten. Von einem alten, närrischen Kauz war weder unter den grauen Arkaden noch im nassen Hofgarten etwas zu erblicken; und es dauerte ein Weilchen, bis Prisca begriffen hatte, daß jene komische Persönlichkeit kein andrer sein sollte als ihr geliebter Rottmann.
Ihn lachten die beiden Lustigen aus.
Es waren Fremde, und es schienen Künstler zu sein, wenn sie auch in ihren übermäßig modischen Überröcken und kleinen, steifen englischen Hüten wenig danach ausschauten. Der alte, närrische Kauz machte ihnen entschieden ungeheuer viel Spaß. Sie amüsierten sich höchlich über die alte Manier, die veraltete Technik, über jeden Pinselstrich, lauter Dinge, die sich längst überlebt, die als die Mumie einer vorsintflutlichen Kunst lediglich die Berechtigung einer Museumsexistenz hatten.
Und nicht etwa, daß sie sich über den alten Rottmann ärgerten, die liebenswürdigen jungen Herren, daß sie über ihn debattierten, etwa dieses und jenes gelten ließen – nichts dergleichen! Sie machten sich einfach über ihn lustig wie über einen Spaßmacher, der abgetan ist, sobald man mit dem Lachen über ihn fertig ward.
Die gute Prisen, bald ihre lieben verspotteten Gemälde, bald die vergnügten kritisierenden Jünglinge anblickend, hörte mit einer Empfindung zu, als würde vor ihren Augen ein Heiligtum in den Schmutz geworfen. Aber dann hätte sie ja hinstürzen und das geschändete Sanktuarium aufheben können! Was sollte sie hier tun? Denn etwas mußte sie doch tun! Wer läßt in seiner Gegenwart einen lieben Freund verhöhnen?
Sollte sie mit flammendem Zorn an die Spötter herantreten und ihnen begreiflich machen, wie herrlich diese Gemälde waren? Es wäre die Stimme eines Predigers in der Wüste gewesen.
Priscas gesunder Sinn für Humor erwachte. Sie, im Regenmantel mit Gummischuhen, unter den Arkaden als Prediger in der Wüste! Aber stumm bleiben konnte sie doch auch nicht. Und obgleich es – was hätte ihre Hofdame, das Glöcklein, dazu gesagt! – durchaus unschicklich für eine junge Dame war, ging sie mir nichts dir nichts auf die beiden Lustigen zu, machte selbst ein lustiges Gesicht und redete die Fremden folgendermaßen an:
»Wie ich höre, amüsieren Sie sich über die Rottmann. Es ist recht schade, daß der alte Herr nicht mit dabei sein kann. Er hätte Sie vielleicht gefragt: ›Meine jungen Herren Künstler, Sie werden die Sache gewiß viel besser machen?‹ Nun, dem alten Rottmann kann es recht sein.«
Prisca schlug die Augen so groß auf, wie sie nur konnte, lächelte, ging weiter.
Die beiden Lustigen hielten es für einen famosen Witz, auf offener Straße von einem jungen Mädchen wegen des alten, närrischen Kauzes angerempelt zu werden.
»Wäre sie nur etwas hübscher gewesen!«
»Etwas hübscher? Aber Mensch! Mit solchen Augen ...«
*
Aufgeregt durch das kleine Abenteuer, kam Prisca in die Säle der permanenten Kunstausstellung, die sich unter den Arkaden des Hofgartens befindet, und in der es an diesem grauen Novembernachmittag fast so öde war, wie in der breiten, langen und langweiligen Ludwigsstraße. Einsam wanderte die junge Künstlerin unter den Bildern umher.
Da hingen sie nun: die Jungen, die Jüngsten, die Allerjüngsten. Sie alle, welche