Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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des Zeitgeistes die Kunst neu schmiedeten und denen die Zukunft gehörte – so glaubten sie wenigstens.

      Prisca war diesem Chaos von Erscheinungen und Ideen gegenüber aus einer gewissen Beklommenheit nie herausgekommen. Jeder war von dem andern gänzlich verschieden, ein jeder eine Persönlichkeit für sich. Fühlte sie sich von diesem starken Talent und Temperament lebhaft angezogen, so stieß jenes andre sie um so heftiger ab; und doch schienen beide, trotz aller Verschiedenheit, genau dasselbe zu wollen.

      ›Herrgott,‹ so dachte sie oft, ›wie viele Arten von Augen hast du eigentlich deinen Malergeschöpfen gegeben? Der eine sieht alles blau, wo der andre alles nur violett erblickt! Da ist einer, der schaut die ganze Welt rosenrot an, wo der andre überhaupt keine Farben sieht.‹

      Prisca fühlte für all dies Verschiedenartige und Entgegengesetzte ein fast fieberndes Interesse, hütete sich ängstlich vor jedem Absprechen und Verurteilen. So klar sie über sich selbst Bescheid wußte, so sicher sie ihren eignen Weg ging, verwirrten sie doch die Wege und Ziele der andern. Die Verwegenheit der künstlerischen Glaubensbekenntnisse, die Kühnheit der Probleme, die waghalsigen technischen Experimente erschreckten sie. Ihr eignes künstlerisches Glaubensbekenntnis zeigte eine wohlgeordnete Harmonie, von ihr streng unter Kontrolle gehalten; und in der Kunst der andern leuchtete ihr das wildeste Chaos in allen Farben entgegen. Es war eine Revolution, die Anarchie zu bringen schien. Von dem oft brillanten Können geblendet, durch die Rücksichtslosigkeit und Aufdringlichkeit der individuellen Anschauung geängstigt, gehörte ihre ganze kräftige Natur dazu, um diesem gewaltsamen Anprall von fremden Eindrücken, dieser Sturmflut von neuen Begriffen zu widerstehen. Denn sie wollte in sich nur aufnehmen, was ihr naturgemäß war; und es gab Stunden, wo sie sich unter all diesen Modernen alt, uralt vorkam, eine überlebte Manier, ein unglückseliger Epigone unter einer Generation, mit der sie, als wahre Tochter ihres Vaters, nichts gemein hatte.

      Dort hing ihr Bild; dort im Winkel, ganz oben, halb im Dunkeln. Wer sah und beachtete es dort? Und wenn es jemand beachtet hätte, würde es gefallen? Und wenn es gefiele, würde man es kaufen?

      Ganz sicher nicht.

      Und doch war es ein gutes Bild.

      Es stellte eine Landschaft vor, die vollkommen einer Idealwelt angehörte: geheimnisvolle, schattige Haine, strahlende Blütenmassen, glanzvolle Menschengestalten unter einem leuchtenden Himmel, auf einer frühlingsgrünen Erde. Es war eine Welt, die Prisca nur in ihren Träumen geschaut und die sie nur dort drüben – jenseits der Alpen – in Wirklichkeit schauen konnte. Dort allein würde ihr Traum Wahrheit werden.

      Und warum dieses fortwährende leidenschaftliche Sehnen? War es nicht wie ein Notruf ihres ganzen Ichs? Ihre Natur schrie nach dem ihr Gemäßen, das sie unter diesem grauen Himmel, in diesem farblosen Leben niemals finden würde. Mußte aber der Mensch seiner Natur nicht folgen? Und mußte der nicht zugrunde gehen, der seiner eigensten Natur Gewalt antat, der Untreue übte gegen sich selbst?

      Auch Priscas frisches Wesen unterlag bisweilen einer jener »Stimmungen«, die sich wie Gewaltherrscher manchen Gemütes bemächtigen. Eine jähe Angst überfiel sie dann: würde ihr kleines Künstlerleben sich erfüllen? Der trübe Tag mit seinem tief herabdrückenden Himmel; die glanzvolle Vision, die sie unter den Hofarkaden gehabt; das kleine Abenteuer mit den beiden lustigen Herren; die menschenleere Ausstellung mit der Fülle neuer und verwirrender Eindrücke und schließlich ihr eignes, fremdartiges Selbst dort oben – alles kam heute zusammen, um sie schwer zu bedrücken, zugleich aber auch, um den Trieb der Selbsterhaltung in ihr zu erwecken.

      Worauf wartete sie eigentlich?

      Auf den Verkauf ihrer Ideallandschaften? Auf Bestellungen? Auf die Sicherung einer behäbigen Existenz? War nicht gerade das Leben eines Künstlers beständiger Drang, nie endender Kampf? Würde ihr langes Hoffen und Harren, ihr geduldiges Warten ihr den Kampf erleichtern oder gar ersparen? Wünschte sie überhaupt solche Schonung ihrer Kraft?

      Sie war jung und stark. Hatte sie nicht ihr Talent, an das sie glauben wollte bis zu ihrem letzten Atemzuge? Und zu ihrer Jugend, ihrer Begabung kam ihr rastloser Fleiß, ihre eiserne Willenskraft. Das alles, zusammen mit ihrem ehrlichen Glauben an sich selbst, war ein Talisman, dem nichts widerstehen konnte. So meinte sie wenigstens.

      ›Ich gehe fort! Ich gehe nach Rom! Bald gehe ich fort! Ja, ja, bald!‹

      Es war der Entschluß eines Augenblicks. Wie so häufig, entschied auch hier ein Augenblick ein ganzes Leben.

      Prisca schwindelte es. Vor ihren Augen zitterten Farben und Strahlen. Ihre Seele wurde von einem Taumel erfaßt und durch leuchtende Unendlichkeiten gerissen. Ihr war's, als blickte sie in die Zukunft, und diese war eitel Sonne und Glanz: die heilige Sonne Roms, der berauschende Glanz des Südens.

      Und diese überirdische, vertrauensselige Stimmung hielt stand; sie verflog nicht sogleich. Dergleichen lag nicht in Priscas Natur. Was sie einmal ergriff, das hielt sie fest.

      Sie wurde plötzlich ganz übermütig. Sie ging durch die Ausstellung, von einem Modernen und Modernsten zum andern; und sie sagte diesen Herren ihre Meinung – übrigens mit allem schuldigen Respekt. Diesen und jenen fragte sie so nebenher: ob er wohl schon von einer gewissen Sixtinischen Kapelle und den vatikanischen Stanzen gehört hätte? Die Gefragten lachten ihr natürlich einfach ins Gesicht, worauf Prisca wieder lachte, so recht von Herzen vergnügt. »Oh,« meinte sie, »lachen Sie nur, meine lustigen Herren! Was sollten Sie wohl mit Raffael anfangen? Der hat sich ebensogut längst überlebt, wie ein gewisser alter, närrischer Kauz ... Übrigens gehe ich hin. Jawohl, meine Herren, ich gehe nach Rom!«

      Das gellende Hohnlachen, das dieser vertraulichen Mitteilung folgte, vernahm die gute Prisca nicht. Die beiden kleinen Worte: »nach Rom!« rauschten und brausten durch ihre Seele, als wollten sie darin zur unendlichen Melodie werden, so recht zur Zukunftsmusik.

      Zuletzt machte sie sich noch ein kleines Extravergnügen. Sie begab sich ganz ehrbar ins Bureau der Ausstellung, machte ein möglichst würdevolles Gesicht und sagte ernsthaft:

      »Sollte jemand meine ›Ideallandschaft mit Staffage‹ – Prisca Auzinger, Saal II, Nummer 173, rechte Querwand, oben im Winkel – zu kaufen wünschen: der Preis ist 2300 Mark. Ich empfehle mich Ihnen.«

      Das glücklich ausgeführt, ging sie durch Wind und Regen von dannen, ohne von dem Unwetter das mindeste zu empfinden. Sie ging die ganze lange öde Ludwigsstraße hinauf und weiter dem idyllischen Schwabing zu. Unterwegs dachte sie:

      ›Was wird das Glöcklein dazu sagen daß ihre Prinzeß nach Rom geht? Ohne Hofdame, mutterseelenallein, mit dem Personenzug dritter Klasse ... Mein gutes, komisches Glöcklein! Ich werde sie ordentlich vorbereiten müssen, damit ihr der Schreck nicht in ihr armes Seelchen fährt. Aber schön ist es doch, daß es auf der Welt jemand gibt, der erschrickt, wenn ich plötzlich auf und davon will. Überhaupt: nur nicht einsam sein, nur liebgehabt werden ... Wie das erst sein muß, wenn man geliebt wird?! So ganz ohne Maß, ohne Besinnung, ohne Ende! Ob das wohl vorkommt? ... Ich kann es mir nicht vorstellen. Und doch ...‹

       4. Im Idyllenhδuschen

       Inhaltsverzeichnis

      Im lieben, alten Schwabing steht noch immer jenes greise Dorfkirchlein, das andre, ganz andre Zeiten gesehen hat; Zeiten, in denen ein Mensch, der die Eisenbahn und den Telegraphen, das Glühlicht und Telephon als etwas ganz Natürliches angesehen hätte, unfehlbar der schwarzen Kunst angeklagt worden wäre. Wer nun bei dem kleinen, altersgrauen Gotteshaus, welches in das neue, großstädtische München sowenig paßt wie ein Stück Urväterhausrat in einen Salon mit der modernen Ausstattung von heute, nordwärts geht, gelangt in Gassen und Gäßchen, in denen ihn eine Empfindung überkommt, als lebte er im Anfang dieses Jahrhunderts, statt an dessen Ende.

      In einem dieser stillen Erdenwinkelchen befindet sich noch heute ein Hauch das einstmals für eine kleine Fee oder sonst ein puppenhaftes Wesen gebaut worden zu sein scheint; so winzig ist das Haus und alles, was dazu gehört, als da sind Türen und Fenster, ein Klingelzug und ein Brünnlein.