So wurde sie vierzehn Jahre, als für sie und noch mehr für ihren Vater ein bedeutsames Ereignis eintrat.
Der große tannene Tisch stand dicht an das Fenster gerückt, damit das Tageslicht möglichst hell darauf fiel. Vater und Tochter saßen sich daran gegenüber. Joseph Auzinger kritzelte seine ewigen, trostlosen Fratzen; aber auch Prisca hatte heute, statt ihre Schulaufgaben zu machen, ein Blatt vor sich, darauf sie mit heißem Gesicht und heiligem Eifer allerlei zeichnete.
Als Auzinger auf die ungewöhnliche Beschäftigung seiner Kleinen aufmerksam wurde, durchfuhr ihn heißer Schreck: ›Herrgott, sie zeichnet gewiß Karikaturen! Was sollte sie als deine Tochter andres zeichnen?‹ Er mußte sich zuvor ein Herz fassen, ehe er sich getraute, genau hinzuschauen, aus Furcht, es könnten ihm seine eignen Grimassen entgegengrinsen.
Wie aber wurde ihm zumute, als er auf dem Blatt in naivster Weise, aber doch mit starkem Talent gezeichnet, die Umrisse einer Landschaft gewahrte, die entschieden Ähnlichkeit mit seinen idealen Phantasiegebilden besaß. Er riß seine Tochter an sich, küßte sie leidenschaftlich und empfand die erste reine Freude seines Lebens.
Nun raffte er sich auf, um selbst Prisca zu unterrichten. Zuerst sollte es nur im Zeichnen sein, später im Malen – im Komponieren!
Wenn dereinst seine, des armen Joseph Auzingers, Tochter in Linien und Gestalten, in glühenden Farben dasjenige würde aussprechen können, was seine ganze Seele erfüllte – wenn die Welt einstmals in dem Talent der Tochter den Genius des Vaters erkennen würde ...
Die schwere, verantwortungsvolle Arbeit begann. Joseph Auzinger lehrte und lehrte; und Prisca wollte für ihr Leben gern lernen und lernen. Aber – es ging nicht. Er konnte zu wenig, mißtraute auch dem Wenigen zu sehr. Sie entwickelte zwar ein erstaunliches Talent zu erraten, abzulauschen, zu ergänzen, ihren Weg mühselig durch die väterlichen Irrpfade hindurch zu suchen, aber – es ging eben doch nicht!
Schließlich wußte sie nicht mehr aus noch ein.
Auzinger mußte den Unterricht aufgeben.
Er sammelte seine letzten Kräfte und überwand scheinbar seine grenzenlose Enttäuschung, Scham und Selbstverachtung – scheinbar! Prisca tröstete, stützte, richtete auf. Sie, das Kind, verband die starke Liebe einer Mutter mit der zarten Sorge eines Weibes, ohne den gebrochenen Geist gewahr werden zu lassen, daß sie trösten, stützen und aufrichten mußte. Sie verstand es sogar, ihm die Einbildung zu geben, er wäre der Starke und Stützende. Je trüber Joseph Auzingers Seele sich umflorte, um so heller leuchtete ihr unhübsches Gesicht, um so frischer tönte ihre kindliche Stimme.
Jetzt suchte Prisca selbst nach einem Lehrer für sich. Sie gab nicht nach, bis sie einen solchen gefunden hatte, und machte dabei ihren Vater glauben, er selbst hätte seine Tochter so vortrefflich versorgt.
Es begannen für das Mädchen schwere Lernjahre, in denen sie ihr Talent und zugleich ihren Charakter erproben konnte. Sie arbeitete rastlos, mit eisernem Fleiß und niemals versagender innerlicher Kraft. Bereits konnte sie die Zeit voraussehen, wo sie durch ihre Kunst würde verdienen können. Es würde freilich noch Jahre dauern. Aber das machte nichts. Wenn nur ihr Vater so lange aushielt. Auch dafür hatte sie zu sorgen: Tag für Tag, jahrelang. Und auch das vollbrachte sie.
Jeden Feiertag führte sie ihren Vater spazieren: zu den Rottmann unter den Arkaden des Hofgartens! So wurden diese leuchtenden Bilder aus einer andern schönen Welt ihre treuen Gefährten, ihre guten Freunde.
Was alles der gute Joseph Auzinger seiner Tochter angesichts der Rottmann vorschwärmte, was die kleine Prisca dabei dachte und empfand ...
Dann kam ein glückseliger Tag: das erste kleine Bild wurde verkauft.
Als Prisca diese Nachricht erhielt, dachte sie nur an ihren Vater. Sie stürzte vor ihm nieder, umfing ihn, weinte und lachte; sie stammelte: »Vater, lieber Vater! Jetzt brauchst du nicht mehr Karikaturen zu zeichnen.«
Nein, keine Karikaturen mehr! Damit war es für Joseph Auzinger aus und vorbei. In Ewigkeit keine Karikaturen mehr! Denn die Karikatur dieses Künstlerlebens verlöschte die barmherzige Hand des Todes, leise und lind wie mit mütterlichem Erbarmen. Als Prisca in das stille Antlitz blickte, war es ein solch feierliches und herrliches Menschenbildnis, daß die Tochter erkannte: hier war ein wahrer Künstler dahingegangen, ein – großer Künstler!
Von der Gruft zurückkehrend, besuchte sie ihre lieben Rottmann. Und oft kam sie wieder.
Denn der Weg von diesen bis zu einem beachteten Platz in der Kunstausstellung unter den nämlichen Säulenhallen war auch für das rastlos arbeitende und in allen Lebensnöten ausdauernde Talent von Joseph Auzingers Tochter ein gar weiter und mühseliger. Prisca ging ihn Schritt für Schritt, ohne Pausen und Ruhepunkte, oft in tiefer Ermüdung, die jedoch niemals völlige Ermattung ward, und vorderhand noch ohne jede begründete Hoffnung auf das Erreichen eines heiß ersehnten fernen Zieles, oder auf den Ausblick nach einem lockenden, leuchtenden Horizont. Manche Wegstelle auf ihrer weiten, einsamen Straße war eine Station, deren heimliche Leiden nur derjenige kennt, der selber solchen Weg geschritten ist: dahin auf mühevollen Künstlerbahnen, durch eine Welt, so grau und dunkel, daß alles Licht auf Erden erloschen scheint; durch ein Leben, so rauh und häßlich, daß darin die Schönheit, die Güte und das Glück zu einer frommen Sage geworden. Denn nicht mit Rosen wird die Stirn des Künstlers bekränzt, sondern mit Dornen, die der Seele blutige Wunden reißen.
Das schönste Erbteil, welches Joseph Auzinger seinem verwaisten Kind hinterließ, sollte Prisca erst viele Jahre nach dem Tod des armen Künstlers mit dem verfehlten Leben verstehen und würdigen lernen. Es war dies eine fanatische Liebe, eine glühende Verehrung für ihre – tote Mutter.
Prisca wußte es nicht anders, als daß ihre Mutter in einem Alter von siebzehn Jahren gestorben sei, kurze Zeit, nachdem sie ihrer Tochter das Leben gegeben; und zwar gestorben an unüberwindlicher Sehnsucht nach ihrer fernen, schönen Heimat, gestorben an Heimweh nach dem blauen Himmel Italiens.
Welcher Schmerz mußte dazu gehören, um ein Herz vor Sehnsucht brechen zu machen, wie mußte ein solches Herz sein Heimatland lieben!
Als wäre sie eine Gestalt aus einer Sage, so hatte Joseph Auzinger dem Kind von seiner Mutter erzählt: von seiner jungen, wunderschönen Mutter, die wie eine exotische, farbenprächtige Blume kurze Zeit unter dem deutschen Himmel geblüht hatte und dann aus Mangel an Sonne verwelkt war.
Aus Rom war dieses fremdartige Menschenkind zu Joseph Auzinger gekommen, Maria ihr Name gewesen ... Alles dieses hatte Prisca über ihre Mutter aus dem Mund ihres Vaters erfahren. Nichts andres, kein einziges andres Wort.
Daß sie aus keinem fremden, keinem mitleidlosen Munde etwas über ihre Mutter erfahren könnte, war bis zu seinem letzten Atemzug Joseph Auzingers heimliche Sorge gewesen. Schon als Prisca noch ein ganz kleines Kind war, hatte er jene wenigen Personen aufgesucht, die von der schönen Maria von Rocca di Papa etwas wußten; das heißt, die wußten, daß sie den närrischen Joseph Auzinger geheiratet und ihn bereits nach einem kurzen Jahr verlassen hatte. Einem jeden hatte er einzeln mitgeteilt, daß für sein Kind die Mutter gestorben sein müsse; einen jeden hatte er inständig gebeten, ihm bei dieser frommen Lüge zu helfen, wenn das jemals notwendig sein sollte. Seine traurige Stimme hatte dabei einen Ton, seine melancholischen Augen hatten einen Blick gehabt, daß jeder es ihm gelobte, denn sie alle dauerte der arme Karikaturenzeichner.
So war es denn Joseph Auzinger gelungen, seiner Tochter die Gestalt ihrer Mutter rein von jedem Flecken zu erhalten, so daß Marias schönes Bildnis durch Priscas ganzes Leben als das einer Verklärten erglänzte.
Marias schönes Bildnis ...
Alles, was Joseph Auzinger nach diesem wunderbaren Antlitz in flüchtigen Umrissen gezeichnet oder gemalt hatte, war von ihm selbst nach der Flucht seines Weibes vernichtet worden.
Auch das hatte er für seine Tochter getan, und auch das sollte von dieser