Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027223008
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daß sie es würde glauben müssen. »Sie sind alle gleich,« hatte Wladimir Wassilitsch damals ihr gesagt. Aber Sascha, ihr Sascha und diese vornehme Dame – –

      »Ich weiß nicht, was Sie damit bezwecken, mir mitzuteilen, daß Sascha und Anna Pawlowna zusammen auf dem Lande sind. Warum sollten sie nicht? Es kann nichts Böses dabei sein. Ich verstehe nicht, weshalb Sie es mir sagen, weshalb Sie es mir in solcher Weise sagen. Das ist nicht recht von Ihnen.«

      Mein Gott, welche Unschuld, welche Kindlichkeit! dachte Boris und fühlte eine Art von Bedauern mit ihr, als sollte er mit seinen Worten ihren Glauben an Gott und die Menschen zerstören. Trotzdem sagte er geradeheraus: »Sascha ist Anna Pawlownas Liebhaber.«

      Sie erwiderte nichts, sie überwand ihren Schmerz und blieb ruhig. Dieser fremde Mann sollte sie nicht um ihren Freund, ihren Bruder weinen sehen. Er blickte sie so sonderbar an.

      »Wenn ich Sascha sehe, werde ich ihn fragen,« meinte sie einfach; »und wenn es wahr ist – –

      Er unterbrach sie.

      »Was werden Sie dann tun?«

      »Dann werde ich sehr einsam auf der Welt sein,« sagte Wera leise, wie zu sich selbst.

      »Ich bin Ihr Freund.«

      »Sie?«

      »Zweifeln Sie?« fragte er leidenschaftlich.

      »Warum sollten Sie nicht mein Freund sein?«

      »Sie haben diesen Sascha geliebt?«

      »Wir wuchsen zusammen auf und haben viel miteinander gelitten, viel zusammen gehofft. An so vieles geglaubt! Er war rein und gut und nun – Er hat mir einen großen Schmerz zugefügt.«

      »Sie kennen die Welt nicht, sonst würden Sie anders reden.«

      »Ich habe mit dem Volke gelebt und nichts von allen diesen Dingen gewußt. Warum ist es denn nötig, die Welt kennen zu lernen? Es macht nicht glücklich. Schlimmer als das, es macht schlecht!«

      Ihre Stimme klang gepreßt, sie blickte nicht auf.

      »Sie denken zu hoch von den Menschen.«

      »Ich verstehe nicht, wie man niedrig von ihnen denken kann,« entgegnete Wera in tiefster Traurigkeit und heftig atmend. »Ich wenigstens möchte nicht länger leben, wenn ich so denken müßte.«

      »Sind Sie Nihilistin geworden, weil Sie groß von den Menschen denken?« fragte Boris mit ehrlichem Erstaunen.

      »Geben auch Sie mir diesen Namen?« klagte Wera. »Dieser Name ist unser Unglück. Wenn wir uns Volksfreunde nennen würden, so müßte das in Rußland ein Ehrenname sein.«

      »Sie weichen mir aus. Unmöglich können Sie bei den Feinden des Volkes Edelmut und Tugend voraussetzen. Ihre Menschenliebe und Ihr Glaube an die Menschen erstrecken sich also wohl nur auf die Unterdrückten und Unglücklichen?«

      »Nein, nein!« rief Wera in heftiger Bewegung. »Ich kann Wladimir Wassilitsch nicht glauben. Ihr seid nicht alle gleich! Wenn die Feinde des Volkes erkennen würden, wie elend und hilflos wir sind, so brauchte es keine Nihilisten und Terroristen zu geben. Und es sind doch so manche darunter, die es gut mit uns meinen. Denken Sie doch, da ist Natalia Arkadiewna! Da ist Anna Pawlowna! Und da –« sie zauderte etwas, »da sind Sie. Noch viele solcher, und das Volk wird nicht nur frei, sondern auch glücklich sein.«

      »Ich muß wiederum eine Ihrer Illusionen zerstören,« erwiderte Boris Alexeiwitsch und beschäftigte sich mit seinen Nägeln. »Natalia Arkadiewna ist in Wladimir Wassilitsch verliebt, Anna Pawlowna in Sascha und ich – – Mein Gott, ich will mich auch nicht besser machen als ich bin; ehe ich Sie kennen lernte, war mir die ›Sache‹ sehr gleichgültig. Da sehen Sie selbst, wie wir sind!«

      Wera stand und bemühte sich, zu begreifen, was sie gehört hatte. Natalia Arkadiewna verliebt in Wladimir, Anna Pawlowna verliebt in Sascha, und Boris Alexeiwitsch – – Was war mit Boris Alexeiwitsch? Warum sah er sie so an? Was meinte er mit ihr? Was hatte sie mit ihm zu tun?

      Während sie mit ihren qualvollen Empfindungen rang, stieg plötzlich das Bild Grischas vor ihr auf. Eine heftige Sehnsucht überkam sie, wieder den Duft der Narzissen und des Flieders zu atmen, wieder in das ehrwürdige Gesicht des Mütterchens zu sehen, wieder mit dem »Prachtmenschen« über die Felder zu gehen und die Lerchen singen zu hören.

      Sie stand so versunken, daß sie aufschreckte, als Boris Alexeiwitsch sie anredete: »Ich habe Ihnen heute das Buch mitgebracht.«

      »Welches Buch?«

      »Puschkins Onegin. Sie baten mich darum.«

      Wera errötete.

      »Ich hätte Sie gebeten? Sie sagten, daß Sie mir das Buch bringen wollten. Es ist lange her. Ich dachte, Sie hätten es vergessen; aber es ist sehr gütig von Ihnen.«

      »Durchaus nicht. Sie kennen noch gar nichts, ja noch gar nichts von der russischen Literatur. Da muß ich, als Ihr Freund, Ihnen doch behilflich sein und Ihnen das Beste, was wir besitzen, zuführen. Neulich sagten Sie, daß Sie noch nie ein Gedicht von Puschkin gelesen hätten. Es ist unglaublich!«

      »Ich bin sehr unwissend.«

      »Darf ich Ihnen vorlesen?«

      »O nein. Es würde Ihnen Mühe machen. Danke, danke.«

      Er winkte ihr, allen Dank ablehnend, mit seiner weißen Hand, schlug das Buch auf und begann mit leiser, weicher Stimme zu lesen. Wera saß ihm gegenüber. Zuerst war sie so unruhig und aufgeregt, daß sie nichts verstand. Es dauerte aber nicht lange, so hingen ihre Augen an den Lippen des Vorlesers. Ihr ward wunderlich zumute, als träte sie aus einem dunklen Raum ins Licht, als würde sie aus einer Tiefe aufgehoben, hoch und höher. Unter ihr lag die Erde, um sie war alles Glanz.

      Als Boris gelegentlich vom Buche aufsah und einen forschenden Blick auf Wera warf, sprang er in die Höhe.

      »Was haben Sie? Sie weinen!«

      Ohne ihre Tränen zu trocknen, bat sie ihn mit einer flehenden Gebärde, weiterzulesen.

      Siebentes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Anna Pawlowna erwachte aus schwerem, traumlosem Schlaf mit einer Empfindung, als ob es besser für sie wäre, es bliebe immer Nacht und sie brauchte sich nicht mehr zu regen. Sie schloß die Augen wieder, lag lange Zeit, ohne eine Bewegung zu tun, und versuchte, sich über ihren Zustand Klarheit zu verschaffen. – – Was war geschehen? Sie hatte sich hingegeben, aus Liebe, sich selber zur Sühne und Läuterung. Sie wollte ein neues Dasein beginnen. Als die Geliebte dieses Bauernsohns, vereint mit ihm und den Seinen, wollte sie helfen, Gesellschaft und Regierung zu stürzen und das Volk auf den Thron der Menschheit heben, das nach Branntwein und Schweiß stinkende russische Volk!

      War sie von Sinnen? Und wenn sie es war, so wollte sie von Sinnen bleiben; bleiben mußte sie es, sonst – –

      Bei dem Sonst standen ihre Gedanken still.

      Sie erhob sich endlich, wie mit gelähmten Gliedern, ohne nach der Kammerfrau zu läuten. Auch konnte sie sich nicht entschließen, den Vorhang vom Fenster zu ziehen und in das Tageslicht zu schauen. Bei der Dämmerung, die in dem Gemach herrschte, kleidete sie sich an, langsam und mühsam. Als sie fertig war, löste sie ihr langes, prachtvolles Haar, trat vor den Spiegel und schaute hinein, das schattenhafte Bildnis ihrer Schönheit, welches sie im Glase sah, mit Augen betrachtend, als erblickte sie es zum erstenmal. Mit einem tiefen Seufzer wandte sie sich von ihrem Spiegelbilde ab, schritt zum Fenster, öffnete die Vorhänge, um sogleich vor der blendenden Helle das Gesicht mit beiden Händen zu schützen. Dann ließ sie die Arme sinken und stand da in dem vollen Glanz des Tages, die ganze Gestalt von Strahlen umleuchtet.

      Ohne etwas zu genießen und die Kammerfrau hinwegwinkend, begab sie sich hinaus in den Garten, und schlug denselben Weg ein, den sie im Morgengrauen mit Sascha