»Nach welchem fremden Lande ging er, Bessie?«
»Nach einer Insel, die viele tausend Meilen entfernt ist, wo sie Wein machen – der Kellermeister hat mir das gesagt.«
»Nach Madeira vermutlich?«
»Ja, ja, das war’s, so hieß sie.«
»Und dann ging er wieder fort?«
»Ja. Er blieb nicht viele Minuten im Hause. Mrs. Reed war sehr von oben herab mit ihm. Nachher sagte sie von ihm, er sei ein ›armseliger Handelsmann‹. Mein Robert glaubt, dass er ein Weinhändler war.«
»Sehr wahrscheinlich«, entgegnete ich, »oder vielleicht der Commis oder der Agent eines Weinhändlers.«
Noch eine ganze Stunde lang sprachen Bessie und ich von alten Zeiten, und dann war sie gezwungen, mich zu verlassen. Als ich am nächsten Morgen in Lowton auf die Postkutsche wartete, sah ich sie noch für einige Minuten wieder. Schließlich trennten wir uns vor der Tür des »Wappens von Brocklehurst« daselbst; jede zog dann ihre Straße; sie begab sich auf den Gipfel des Lowood-Felsens, wo der Wagen vorüber kam, der sie nach Gateshead zurückführen sollte; ich bestieg das Gefährt, das mich in die unbekannte Gegend von Millcote brachte, einem neuen Leben und neuen Pflichten entgegen.
Elftes Kapitel
Ein neues Kapitel in einem Roman ist mit einem neuen Akt in einem Schauspiel zu vergleichen; wenn ich den Vorhang wiederum in die Höhe ziehe, lieber Leser, musst du dir vorstellen, dass du ein Zimmer im »Georgs Wirtshaus« in Millcote siehst, mit so großblumigen Tapeten an den Wänden, wie Gasthauszimmer sie gewöhnlich aufweisen; mit dazu passenden Teppichen, Möbeln, Nippesfiguren auf dem Kamin, Kupferstichen, einem Porträt von Georg III., einem zweiten des Prinzen von Wales, und einer Darstellung vom Tode des General Wolfe. Und alles dies siehst du bei dem Schein einer Öllampe, welche von der Decke herabhängt, und dem eines hellen Kaminfeuers, neben welchem ich in Mantel und Hut sitze; mein Muff und Regenschirm liegen auf dem Tische, und ich versuche, mich an der Wärme des Ofens von der Steifheit und Betäubung zu erholen, welche eine sechszehnstündige Reise in kaltem Oktoberwetter bei mir hervorgerufen hatte; um vier Uhr morgens hatte ich Lowton verlassen und die Stadtuhr von Millcote schlug jetzt gerade die achte Stunde.
Lieber Leser, wenn es auch den Anschein hat, als ob ich mich ganz behaglich fühlte, so befindet mein Gemüt sich doch durchaus in keiner beneidenswerten Verfassung. Ich hatte gehofft, hier bei Ankunft der Postkutsche jemanden zu meinen Empfange bereit zu finden. Als ich die hölzerne Treppe hinabstieg, welche der Hausknecht zu meiner größeren Bequemlichkeit an den Wagen gestellt, blickte ich ängstlich umher, in der Erwartung, meinen Namen von irgendjemandem aussprechen zu hören und einen Wagen zu erblicken, welcher meiner harrte, um mich nach Thornfield zu bringen. Aber nichts derartiges war sichtbar, und als ich den Kellner fragte, ob jemand da gewesen, um sich nach Miss Eyre zu erkundigen, wurde meine Frage verneinend beantwortet. So blieb mir also nichts anderes übrig, als zu verlangen, dass man mir ein Privatzimmer anweise – und hier sitze ich nun, während Furcht und Zweifel aller Art meine Seele martern.
Für die unerfahrene Jugend ist es ein seltsames Gefühl, sich plötzlich ganz allein in der Welt zu sehen – von allen Bekannten getrennt – ungewiss, ob sie in den Hafen, für welchen sie bestimmt ist, einlaufen kann und durch tausend Schwierigkeiten verhindert, in den sicheren Port, aus welchem sie ausgelaufen, zurückzukehren. Der Reiz der Neuheit, die Freude am Abenteuerlichen versüßt dies Gefühl, das Bewusstsein der Selbstständigkeit erwärmt es – aber die Empfindung der Furcht dämpft es – und kaum war eine halbe Stunde vergangen, in welcher ich noch immer allein war, so wurde das Gefühl der Furcht durchaus vorherrschend. Da fiel es mir ein, dem Kellner zu läuten.
»Ist hier in der Nähe ein Ort, welcher Thornfield heißt?« fragte ich den Aufwärter, welcher auf mein Klingeln erschienen war.
»Thornfield? Ich weiß nicht, Madame; ich werde mich in der Schenkstube erkundigen.« Er verschwand, kam aber augenblicklich zurück:
»Ist Ihr Name Eyre, Miss?«
»Ja.«
»Es wartet jemand auf Sie.«
Ich sprang auf, griff nach Muff und Regenschirm und eilte in den Korridor des Gasthauses. Ein Mann stand in der offenen Tür und auf der von Laternen erhellten Straße konnte ich die Umrisse eines einspännigen Gefährts unterscheiden.
»Dies ist wohl Ihr Gepäck?« sagte der Mann in der Tür hastig, als er meiner ansichtig wurde, und zeigte auf meinen Koffer, der im Gange stand.
»Ja.« Er hisste ihn auf den Wagen, welcher eine Art von Karren war, hinauf, und dann stieg ich nach. Ehe er die Tür hinter mir zuschlug, fragte ich, wie weit es bis Thornfield sei.
»Eine Sache von sechs Meilen.«
»Und wie lange fahren wir?«
»Vielleicht anderthalb Stunden!«
Er schloss die Wagentür, kletterte auf seinen Sitz, und wir fuhren ab. Langsam kamen wir vorwärts, und ich hatte reichliche Muße zum Nachdenken. Ich war zufrieden, dem Endziel meiner Reise so nahe zu sein, und als ich mich in das bequeme, wenn auch durchaus nicht elegante Gefährt zurücklehnte, gab ich mich ungestört meinen Gedanken hin.
»Nach der Einfachheit und der Anspruchslosigkeit des Dieners und des Wagens zu urteilen, ist Mrs. Fairfax keine sehr elegante Person; umso besser; ich habe nur einmal unter feinen Leuten gelebt und bei ihnen habe ich mich sehr unglücklich gefühlt. Ich möchte wissen, ob sie mit diesem kleinen Mädchen ganz allein lebt. Wenn das der Fall und sie auch nur einigermaßen liebenswürdig ist, werde ich sehr gut mit ihr fertig werden. Ich werde mein Bestes tun. Aber wie schade, dass es nicht immer genügt, sein Bestes zu tun. In Lowood allerdings fasste ich diesen Entschluss, führte ihn aus, und es gelang mir, allen zu gefallen; aber bei Mrs. Reed erinnere ich mich, dass selbst mein Bestes immer nur Hohn und Verachtung hervorrief. Ich flehe zu Gott, dass Mrs. Fairfax keine zweite Mrs. Reed sein möge. Wenn sie es aber ist, so brauche ich nicht bei ihr zu bleiben. Kommt das Schlimmste zum Schlimmen, so kann ich ja immer noch wieder eine Annonce in den Herald rücken lassen. – Wie weit wir jetzt wohl schon auf dem Wege sein mögen?«
Ich ließ das Fenster herab