Das Lied schien seltsam gewählt für eine so kindliche Sängerin; aber ich vermute, dass der Schwerpunkt dieser Produktion darin lag, diese Töne und Worte der Liebe und Eifersucht von den Lippen des Kindes zu hören; und sehr geschmacklos schien mir diese Pointe zu sein.
Adèle sang die Canzonette ganz geschmackvoll und mit der Naivetät ihrer Jahre. Nachdem sie damit zu Ende, sprang sie von meinem Schoße herab und sagte: »Jetzt, Mademoiselle, will ich Ihnen etwas vordeklamieren.«
Dann nahm sie eine Attitüde an und begann »la ligue des rats; fable de Là Fontaine.« Nun deklamierte sie das kleine Stück mit einer Achtsamkeit auf die Interpunktion und Betonung, einer Biegsamkeit der Stimme und einer Zartheit der Bewegungen, welche in ihren Jahren allerdings ungewöhnlich waren und deutlich bewiesen, dass sie sorgsam trainiert worden war.
»Hat deine Mama dich dieses Gedicht gelehrt?« fragte ich.
»Ja, und sie pflegte immer so zu sagen: ›Où avez-vous donc? lui dit un de ces rats; parlez!‹ Und dann ließ sie mich meine Hand aufheben – so – um mich daran zu erinnern, dass ich die Stimme erheben müsse bei der Frage. Soll ich Ihnen jetzt etwas vortanzen?«
»Nein. Jetzt ist es genug. Aber bei wem wohntest du, als deine Mama zur heiligen Jungfrau gegangen war, wie du sagst?«
»Bei Madame Frederic und ihrem Manne; sie hat mich gepflegt und für mich gesorgt, aber sie ist nicht mit mir verwandt. Ich glaube, dass sie arm ist, denn sie hatte kein so schönes Haus wie Mama. Ich war nicht lange dort. Mr. Rochester kam und fragte mich, ob ich mit ihm nach England gehen und bei ihm bleiben möchte, und ich sagte Ja. Denn ich kannte Mr. Rochester, bevor ich Madame Frederic kannte, und er war immer gütig gegen mich und schenkte mir schöne Kleider und hübsche Spielsachen. Aber Sie sehen, er hat nicht Wort gehalten, denn er hat mich nach England gebracht, aber er selbst ist wieder fortgegangen, und jetzt sehe ich ihn nie mehr.«
Nach dem Frühstück zog ich mich mit Adèle in die Bibliothek zurück; wie es schien, hatte Mr. Rochester bestimmt, dass dieser Raum als Schulzimmer benutzt werden sollte. Die Mehrzahl der Bücher war in Glasschränken verschlossen; aber ein Bücherschrank, welcher offen stand, enthielt alles, was für den elementaren Unterricht gebraucht wurde, und verschiedene Bände der leichteren Litteratur, Poesie, Biografie, Reisebeschreibungen, einige Romanzen u.s.w. Ich vermute, dass er der Ansicht gewesen, dies sei alles, was eine Gouvernante für ihre Privatlektüre brauche, und in der Tat genügten sie mir vollauf für den Augenblick; im Vergleich zu den kärglichen Samenkörnchen, welche ich dann und wann in Lowood zu finden imstande gewesen, schienen diese Bände mir eine reiche, goldene Ernte in Unterhaltung und Belehrung zu bieten. In diesem Zimmer befand sich auch ein ganz neues Klavier von herrlichem Ton; außerdem eine Staffelei und mehrere Erdkugeln.
Ich fand meine Schülerin außerordentlich liebenswürdig, aber sehr zerstreut. Sie war niemals an eine regelmäßige Beschäftigung irgendwelcher Art gewöhnt gewesen. Ich fühlte, dass es nicht ratsam sein würde, sie im Anfang zu sehr mit Arbeit zu überhäufen; deshalb erlaubte ich ihr, als aus dem Morgen Mittag geworden war, und ich viel zu ihr gesprochen und sie ein wenig hatte lernen lassen, zu ihrer Wärterin zurückzukehren. Und dann nahm ich mir vor, bis zur Stunde des Mittagessens einige kleine Skizzen für ihren Gebrauch zu zeichnen.
Als ich hinauf ging, um mein Skizzenbuch und meine Zeichenstifte zu holen, rief Mrs. Fairfax mir zu: »Ihre Morgenschulstunden sind jetzt vorüber, wie ich vermute.« Sie befand sich in einem Zimmer, dessen Flügeltüren weit geöffnet waren; als sie mich anredete, ging ich hinein. Es war ein großes, stattliches Gemach, mit purpurfarbigen Möbeln und Vorhängen, einem türkischen Teppich, nussholzbekleideten Wänden, einem großen buntfarbigen Fenster und einer reich geschnitzten Decke. Mrs. Fairfax wischte den Staub von einigen Vasen aus herrlichem Rubinglas, welche auf einer Kredenz standen.
»Welch ein prächtiges Zimmer«, rief ich aus, indem ich umher blickte, denn ich hatte noch nichts gesehen, was auch nur halb so schön gewesen wäre.
»Ja, dies ist das Speisezimmer. Ich habe soeben das Fenster geöffnet, um ein wenig Luft und Sonnenschein herein zu lassen, denn in Zimmern, die selten bewohnt werden, wird alles feucht und dumpfig. Drüben im großen Salon ist es gerade wie in einem Gewölbe.«
Sie deutete auf einen großen Bogen, welcher dem Fenster gegenüber lag und mit persischen Vorhängen, die in Festons aufgerafft waren, dekoriert war. Als ich zwei breite Stufen, welche zu demselben hinaufführten, erstiegen hatte, war mir’s, als täte ich einen Blick ins Feenreich; so herrlich erschien meinem Novizenblick der Anblick, welcher sich ihm darbot. Und doch war es nichts als ein sehr hübscher Salon mit einem Boudoir; beide waren mit weißen Teppichen belegt, die mit bunten Blumenguirlanden bedeckt schienen; die Decke war reich mit schneeigem Stuck bedeckt, welcher weiße Weintrauben und Blätter darstellte; seltsam kontrastierten damit die feuerroten Stühle und Ottomanen. Die Zierrate, welche den Kaminsims aus weißem, carrarischem Marmor schmückten, bestanden aus funkelndem, rubinrotem, böhmischem Glas, und in den Spiegeln zwischen den Fenstern wiederholte sich die allgemeine Mischung von Schnee und Feuer.
»Wie schön Sie diese Zimmer in Ordnung halten, Mrs. Fairfax!« rief ich. »Kein Staub, keine Überzüge aus Glanzleinwand. Man könnte wirklich glauben, dass sie täglich bewohnt würden, wenn die Luft nicht ein wenig gruftartig wäre.«
»Nun, Miss Eyre, wenn Mr. Rochesters Besuche hier auch nur selten sind, so kommen sie ebenfalls stets unerwartet und plötzlich; und da ich bemerkt habe, dass es ihn stets schlechter Laune macht, wenn er alles eingehüllt findet und mitten in die Geschäftigkeit des Räumens hineinkommt, so dachte ich mir, es sei das Beste, die Zimmer stets in Bereitschaft zu halten.«
»Ist Mr. Rochester ein strenger und kleinlicher Herr?« fragte ich.
»Nicht gerade das; aber er hat die Neigungen und Gewohnheiten eines Gentleman und er erwartet, dass alle Dinge sich dem anpassen.«
»Lieben Sie ihn? Ist er allgemein beliebt?«
»O ja. Die Familie hat hier stets in großer Hochachtung gestanden. Seit Menschengedenken hat alles Land in der Gegend, so weit das Auge reicht, den Rochesters gehört.«
»Gut; aber lieben Sie ihn, ganz abgesehen von seinen Besitzungen?