Mein ostensibler Vorwand bei dieser Gelegenheit war gewesen, mir das Maß zu einem Paar Schuhe nehmen zu lassen; folglich machte ich dieses Geschäft zuerst ab, und nachdem es erledigt, ging ich aus dem Laden des Schuhmachers quer über die kleine, reinliche Straße in das Postbüro. Eine alte Dame verwaltete dasselbe; sie trug eine Hornbrille auf der Nase und schwarze gestrickte Pulswärmer an den Händen.
»Sind irgendwelche Briefe für J.E. angelangt?« fragte ich, mir ein Herz fassend.
Sie blickte mich über ihre Brille forschend an; dann öffnete sie eine Schieblade und wühlte so lange zwischen dem Inhalt derselben umher, dass meine Hoffnung zu schwinden begann. Endlich, nachdem sie ein Dokument mindestens fünf Minuten lang vor ihre Augengläser gehalten hatte, reichte sie es mir durch den Postschalter hin, indem sie diese Tat zugleich mit einem zweiten fragenden und misstrauischen Blicke betrachtete – – der Brief war an J.E. adressiert.
»Ist nur ein einziger da?« fragte ich.
»Es sind keine weiteren da«, sagte sie; ich schob ihn in die Tasche und machte mich auf den Nachhauseweg. Jetzt konnte ich ihn nicht öffnen; die Hausregel verpflichtete mich, um acht Uhr zurück zu sein, und es war bereits halb acht.
Bei meiner Heimkehr harrte meiner die Erfüllung verschiedener Pflichten; ich hatte die Mädchen während ihrer Arbeitsstunde zu überwachen; dann war an mir die Reihe, das Gebet zu lesen; darauf zu sehen, dass die Schülerinnen schlafen gingen – und dann nahm ich das Abendessen mit den anderen Lehrerinnen ein. Selbst als wir uns endlich für die Nacht zurückzogen, war die unvermeidliche Miss Gryce noch meine Gefährtin. Die Kerze in unserem Leuchter war fast herabgebrannt – und ich fürchtete, dass Miss Gryce sprechen würde, bis das Licht verlöschen würde; glücklicherweise übte aber das substantielle Mahl, welches sie zu sich genommen, eine einschläfernde Wirkung. Sie schnarchte bereits, als ich mich noch nicht entkleidet hatte. Noch war ein Zolllang Kerze vorhanden – ich zog meinen Brief hervor, – das Siegel trug den Anfangsbuchstaben F – ich erbrach es, der Inhalt war kurz.
»Wenn J.E., welche am letzten Donnerstag eine Annonce in den …shire Herald rücken ließ, die aufgezählten Fähigkeiten besitzt und wenn sie in der Lage ist, genügende Referenzen über Charakter und Wirkungskreis geben zu können, so wird ihr eine Stellung geboten, wo der Gehalt sich auf dreißig Pfund Sterling im Jahr beläuft, und sie nur ein kleines Mädchen unter zehn Jahren zu unterrichten hat. – J.E. wird gebeten, Referenzen, Namen, Adresse und alles Nähere einzusenden unter der Adresse:
Mrs. Fairfax, Thornfield bei Millcote – …shire.«
Lange prüfte ich das Schriftstück; die Handschrift war altmodisch und ziemlich unsicher, wie die einer alten Frau. Dies war ein beruhigender Umstand, denn eine heimliche Furcht hatte mich gequält, dass ich durch dieses eigenmächtige Handeln, ohne irgend eines Menschen Rat eingeholt zu haben, ins Unheil geraten würde; und vor allen Dingen wünschte ich doch auch, dass das Resultat meiner Bemühungen anständig passend, mit einem Worte en règle sein solle. Jetzt fühlte ich, dass eine ältere Dame durchaus keine schlechte Ingredienz für die Sache sei, welche ich so selbstständig in die Hand genommen. Mrs. Fairfax! Ich sah sie in einem schwarzen Kleide und in der Witwenhaube; vielleicht etwas steif – aber nicht unhöflich: ein Muster der ältlichen, englischen Respektabilität. Thornfield! das war ohne Zweifel der Name ihrer Besitzung, gewiss ein sauberes, ordentliches Fleckchen Erde; obgleich es mir trotz der größten Anstrengung nicht gelang mir ein korrektes Bild des ganzen Grundstücks zu machen. Millcote, …shire! ich frischte meine Erinnerung an die Karte von England auf; ja, da lagen sie vor mir, die Grafschaft sowohl wie die Stadt …shire war London um siebzig Meilen näher, als die entlegene Grafschaft, in welcher ich jetzt lebte: das war schon eine große Empfehlung in meinen Augen. Ich sehnte mich dorthin, wo Leben und Bewegung war; Millcote war eine große Fabrikstadt am Ufer des A… gelegen, ein geschäftiger Ort ohne Zweifel; desto besser, das würde wenigstens eine gründliche Veränderung sein. Nicht dass meine Fantasie etwa bei dem Gedanken an hohe Fabrikschornsteine und Rauchwolken in Extase geraten wäre – »aber« folgerte ich weiter, »Thornfield liegt wahrscheinlich eine gute Strecke Wegs von der Stadt entfernt.«
Hier erlosch die Kerze; vollständige Dunkelheit herrschte, – ich schlief ein.
Am folgenden Tage mussten neue Schritte getan werden. Meine Pläne konnten nicht länger in der eigenen Brust verschlossen bleiben; um sie ihrer Ausführung näher zu bringen, musste ich Mitteilung von ihnen machen. Nachdem ich bei der Vorsteherin des Instituts eine Audienz nachgesucht und erhalten hatte, teilte ich ihr während der Mittags-Erholungsstunde mit, dass ich Aussicht auf eine neue Stellung habe, in welcher der Gehalt das Doppelte von dem betragen würde, den ich jetzt erhielt, – in Lowood gab man mir nur fünfzehn Pfund Sterling jährlich – und bat sie, die Angelegenheit für mich bei Mr. Brocklehurst oder irgend einem anderen Mitgliede des Komitees zur Sprache zu bringen und sich vergewissern zu wollen, ob diese Herren gesonnen seien, Auskunft über mich zu geben. Sehr verbindlich willigte sie ein, in dieser Sache als Vermittlerin auftreten zu wollen. Am nächsten Tage trug sie Mr. Brocklehurst die Angelegenheit vor; dieser erwiderte, dass man an Mrs. Reed schreiben müsse, da diese meine natürliche Vormünderin sei. Infolgedessen ging eine Notiz an diese Dame ab, auf welche sie antwortete, dass ich ganz nach eigenem Ermessen handeln könne, da sie längst jede Einmischung in meine Angelegenheiten aufgegeben habe. Dieser Brief machte die Runde bei dem Komitee, und nach langer, wie es mir schien, sehr unnötiger Verzögerung, erhielt ich die Erlaubnis, meine Stellung zu verbessern, wenn die Gelegenheit sich dazu böte. Dieser Einwilligung folgte die Versicherung, dass man mir, da ich sowohl als Lehrerin wie als Schülerin mir die vollständige Zufriedenheit der Lehrerinnen in Lowood erworben, unverzüglich ein Zeugnis über Charakter wie über Fähigkeiten, das von allen Inspektoren der Anstalt unterzeichnet, zustellen würde.
Nach ungefähr einer Woche erhielt ich demzufolge das Zeugnis, schickte eine Abschrift desselben an Mrs. Fairfax, und erhielt die Antwort dieser Dame, welche besagte, dass sie zufrieden sei und mich binnen vierzehn Tagen in ihrem Hause erwarte, wo ich den Posten als Gouvernante