»Miss«, sagte ein Mädchen, welches mich in dem Korridor, wo ich wie ein geängstigter, ruheloser Geist auf- und abging, aufsuchte, »unten ist eine Person, die mit Ihnen sprechen möchte.«
»Ohne Zweifel der Bote«, dachte ich und lief ohne weitere Frage die Treppe hinunter. Ich ging an dem hintern Salon oder Wohnzimmer der Lehrerinnen vorbei, dessen Tür halb geöffnet war, um in die Küche zu gehen, als jemand aus dem Zimmer gestürzt kam.
»Sie ist’s, wahrhaftig sie ist’s! – Überall hätte ich sie wiedererkannt!« rief die Gestalt, die mich in meinem Laufe aufhielt und meine Hand ergriff.
Ich blickte auf. Vor mir stand eine Frau, gekleidet wie eine herrschaftliche Dienerin, matronenhaft, aber dennoch jung; sie war hübsch, schwarzes Haar, dunkle Augen, frische Gesichtsfarbe.
»Nun, wer ist’s wohl?« fragte sie mit einem Lächeln und einer Stimme, die ich halb und halb erkannte; »aber Miss Jane, ich hoffe doch, dass Sie mich nicht ganz vergessen haben?«
Nach einer halben Minute umarmte und küsste ich sie voll Entzücken: »Bessie! Bessie! Bessie!« weiter konnte ich nichts hervorbringen; sie hingegen lachte bald, bald weinte sie; dann gingen wir zusammen ins Wohnzimmer. Am Kaminfeuer stand ein kleiner Bursche von ungefähr drei Jahren in schottischem Rock und Hosen.
»Das ist mein kleiner Junge«, sagte Bessie schnell.
»Du bist also verheiratet, Bessie?«
»Ja. Seit beinahe fünf Jahren mit Robert Leaven, dem Kutscher; außer dem Bobby dort habe ich noch ein kleines Mädchen, das Jane getauft ist.«
»Und du wohnst nicht mehr in Gateshead?«
»Ich wohne in der Pförtnerloge; der alte Portier ist fort.«
»Nun, und wie geht es allen dort? Du musst mir alles erzählen, Bessie; aber nimm erst Platz; und du, Bobby, komm zu mir und setze dich auf meinen Schoß, willst du?« aber Bobby zog es vor, sich neben seine Mama zu stellen.
»Sie sind nicht sehr groß geworden, Miss Jane, und auch nicht sehr stark«, fuhr Mrs. Leaven fort. »Vermutlich hat man Sie hier in der Schule nicht allzu gut gehalten. Miss Reed ist mindestens einen Kopf größer als Sie, und Miss Georgiana ist gewiss zweimal so breit.«
»Georgiana ist wohl sehr hübsch geworden, Bessie?«
»Sehr hübsch. Im vorigen Winter ist sie mit ihrer Mama in London gewesen und dort hat jedermann sie bewundert; ein junger Lord hat sich in sie verliebt; aber seine Verwandten waren gegen die Heirat; und – was glauben Sie wohl? – er und Miss Georgiana verabredeten, miteinander davon zu laufen. Aber es kam an den Tag und sie wurden aufgehalten. Miss Reed hat die Sache entdeckt. Ich glaube, sie war neidisch. Und jetzt leben sie und ihre Schwester wie Hund und Katze miteinander; sie zanken und streiten unaufhörlich.«
»Nun, und was ist aus John Reed geworden?«
»Ach, er führt sich nicht so brav auf, wie seine Mutter es wohl wünschen könnte. Er war auf der Universität und wurde fortgejagt; dann wollten seine Onkel, dass er Advokat werden und die Rechte studieren sollte. Aber er ist ein so leichtsinniger junger Mensch, ich glaube, dass niemals viel aus ihm werden wird.«
»Wie sieht er aus?«
»Er ist sehr schlank. Einige Leute finden, dass er ein schöner junger Mann ist. Aber er hat so dicke, aufgeworfene Lippen.«
»Und Mrs. Reed?«
»Die gnädige Frau sieht im Gesicht dick und wohl genug aus, aber ich glaube nicht, dass sie sich im Gemüt wohl fühlt. Mr. Johns Betragen gefällt ihr nicht – er braucht sehr, sehr viel Geld.«
»Hat sie dich hergeschickt, Bessie?«
»Nein, in der Tat; aber ich habe schon so lange gewünscht, Sie zu sehen, und als ich hörte, dass ein Brief von Ihnen gekommen sei, und dass Sie in eine andere Gegend des Landes gehen wollten, dachte ich mir, dass ich mich auf die Reise machen müsse, um Sie noch einmal zu sehen, bevor Sie ganz außer meinem Bereich wären.«
»Und ich fürchte, Bessie, du siehst dich in deinen Erwartungen getäuscht.« Dies sagte ich wohl lachend, aber ich hatte bemerkt, dass Bessies Blicke, wenn sie auch achtungsvoll waren, in keiner Weise Bewunderung ausdrückten.
»Nein, Miss Jane, das nicht gerade; Sie sehen sehr fein aus; Sie sehen aus wie eine Dame, und mehr habe ich eigentlich nie von Ihnen erwartet. Als Kind waren Sie auch keine Schönheit.«
Ich musste über Bessies offenherzige Antwort lächeln. Ich fühlte, dass sie treffend war, aber ich muss gestehen, dass ich doch nicht ganz unempfindlich gegen ihren Inhalt war. Mit achtzehn Jahren wünschen die meisten Menschen zu gefallen, und die Überzeugung, dass ihr Äußeres nicht geeignet ist, ihnen die Erfüllung dieses Wunsches zu verschaffen, bringt alles andere als Freudigkeit hervor.
»Aber ich vermute, dass Sie sehr gelehrt sind«, fuhr Bessie, wie um mich zu trösten fort. »Was können Sie denn alles? Können Sie Klavier spielen?«
»Ein wenig.«
Im Zimmer stand ein Instrument; Bessie ging hin und öffnete es; dann bat sie mich, ihr ein Stück vorzuspielen. Ich gab ihr ein paar Walzer zum besten und sie war entzückt.
»Die beiden Miss Reeds können nicht so gut spielen!« sagte sie triumphierend. »Ich habe ja immer gesagt, dass Sie sie im Lernen übertreffen würden. Können Sie auch zeichnen?«
»Dort über dem Kamin hängt eine von meinen Zeichnungen.« Es war eine Landschaft in Wasserfarben, welche ich der Vorsteherin aus Dankbarkeit für ihre liebenswürdige Vermittelung bei dem Komitee geschenkt hatte, und die sie unter Glas und Rahmen hatte bringen lassen.
»Aber das ist wirklich schön, Miss Jane! Der Zeichenlehrer der Miss Reeds könnte es auch nicht schöner gemalt haben; von den jungen Damen selbst will ich schon gar nicht reden. Denen könnte es bald jemand nachmachen. Haben Sie auch Französisch gelernt?«
»Ja, Bessie; ich kann es lesen und auch sprechen.«
»Und können Sie auch sticken und nähen?«
»Gewiss,