»Ach nein, Bessie, das hast du nicht.«
»Kind! Was fällt Ihnen denn ein? Mit welch traurigen Augen Sie mich ansehen! Nun, die gnädige Frau und die jungen Damen und Master John fahren heute Nachmittag zum Tee aus, und Sie sollen mit mir Tee trinken. Ich werde die Köchin bitten, dass sie Ihnen einen kleinen Kuchen backt, und später sollen Sie mir helfen, Ihre Schränke und Schiebladen durchzusehen; denn ich werde bald Ihren Koffer packen müssen. Die gnädige Frau hat beschlossen, dass Sie in ein bis zwei Tagen Gateshead verlassen sollen; Sie dürfen alle Spielsachen aussuchen, die Sie mitnehmen möchten.«
»Bessie, du musst mir versprechen, mich nicht mehr zu schelten, so lange ich noch hier bin.«
»Nun, das will ich Ihnen versprechen! Aber nun müssen Sie auch ein gutes Kind sein und sich nicht mehr vor mir fürchten. Schrecken Sie nicht immer gleich auf, wenn ich einmal ein bisschen scharf spreche, das ist so ärgerlich!«
»Nein, ich glaube nicht, dass ich mich jemals wieder vor dir fürchten werde, Bessie; ich habe mich jetzt an dich gewöhnt, und gar bald werden andere Leute da sein, vor denen ich mich zu fürchten habe.«
»Wenn Sie sich vor ihnen fürchten, so werden die Leute Sie niemals lieb haben.«
»Wie du es tust, Bessie?«
»O, ich habe Sie lieb, Fräulein, ich glaube, ich halte mehr von Ihnen, als von all den anderen!«
»Aber du zeigst es mir nicht.«
»Sie kluges, kleines Ding! Sie sprechen mit einem Male ganz anders. Was macht Sie denn so mutig, so waghalsig?«
»Nun, ich werde ja bald weit von hier sein, und außerdem« – ich war im Begriff etwas von dem zu sagen, was zwischen Mrs. Reed und mir vorgefallen war, aber bald fühlte ich, dass es doch besser sei, über diesen Punkt Schweigen zu bewahren.
»Sie sind also froh, mich zu verlassen?«
»O gewiss nicht, Bessie; in der Tat, in diesem Augenblick tut es mir beinahe leid.«
»In diesem Augenblick! und ›beinahe!‹ Wie ruhig die kleine Dame das sagt! Ich glaube wahrhaftig, wenn ich Sie in diesem Augenblick um einen Kuss bäte, so würden Sie ihn mir nicht geben. Sie würden dann sagen, beinahe lieber nicht.«
»Ich will dich küssen, und gern küssen; komm, biege deinen Kopf zu mir herunter.« Bessie neigte sich, wir umarmten uns, und ich folgte ihr ganz getröstet ins Haus. Dieser Nachmittag verging in Frieden und Eintracht, und am Abend erzählte Bessie mir einige ihrer bezauberndsten Geschichten und sang mir ihre süßesten Lieder vor. Sogar auf mein Leben fiel dann und wann ein Sonnenstrahl.
Fünftes Kapitel
Am Morgen des 19. Januar hatte es kaum fünf Uhr geschlagen, als Bessie ein Licht in meine kleine Kammer brachte und mich bereits außer dem Bette und halb angekleidet fand. Ich war schon eine halbe Stunde vor ihrem Eintritt aufgestanden, hatte mein Gesicht gewaschen und mich beim Scheine des grade untergehenden Mondes, der seine Strahlen durch das schmale Fensterchen neben meinem Bette warf, angekleidet. An diesem Tage sollte ich Gateshead mit einer Postkutsche verlassen, die um sechs Uhr morgens an dem Parktor des Herrenhauses vorüberfuhr. Bessie war die einzige Person, die aufgestanden war; sie hatte in der Kinderstube ein Feuer im Kamin angezündet und bereitete jetzt mein Frühstück an demselben. Nur wenige Kinder vermögen zu essen, wenn sie von dem Gedanken an eine Reise beherrscht sind, und ich konnte es auch nicht. Umsonst bat Bessie mich, nur einige Löffel voll von dem Milch- und Brotbrei zu essen, den sie für mich bereitet hatte; ich weigerte mich hartnäckig; dann wickelte sie einige kleine Brötchen und Zwieback in ein Papier und schob es in meine Reisetasche. Darauf bekleidete sie mich mit Hut und Pelz, hüllte sich in ein dickes Tuch und verließ mit mir die Kinderstube. Als wir an Mrs. Reeds Schlafzimmer vorüberkamen, sagte sie: »Wollen Sie hineingehen und Ihrer Tante Lebewohl sagen?«
»Nein, Bessie. Als du gestern zum Abendbrot in die Küche hinunter gegangen warst, kam sie an mein Bett und sagte, dass ich weder sie noch meine Cousinen heute Morgen zu stören brauche, und dann ermahnte sie mich, nie zu vergessen, dass sie stets meine beste Freundin gewesen, und dankbar von ihr zu sprechen und an sie zu denken.«
»Was antworteten Sie darauf, Fräulein?«
»Nichts. Ich bedeckte mein Gesicht mit der Decke und wandte mich von ihr ab.«
»Das war nicht recht, Miss Jane.«
»Es war ganz recht, Bessie. Mrs. Reed ist niemals meine Freundin gewesen, sie war meine erbittertste Feindin.«
»O, Miss Jane, das dürfen Sie nicht sagen!«
»Lebewohl Gateshead!« rief ich, als wir durch die Halle gingen und durch die große Haustür hinaustraten.
Der Mond war untergegangen und es war sehr dunkel. Bessie trug eine Laterne, deren Licht auf nasse Stufen und einen durch plötzlichen Tau aufgeweichten Kiesweg fiel. Feucht und rau war dieser Wintermorgen, meine Zähne schlugen vor Kälte zusammen, als wir den Fahrweg hinuntereilten. Aus der Loge des Portiers glänzte ein Licht. Als wir näher kamen, sahen wir, dass die Pförtnersfrau gerade ein Feuer machte. Mein Koffer, welcher schon am Abend vorher hinuntergetragen war, stand mit Stricken geschnürt vor der Tür. Es fehlten nur noch wenige Minuten an sechs Uhr, und kurz nachdem die volle Stunde geschlagen hatte, verkündete das ferne Rollen der Räder das Nahen der Postkutsche. Ich ging an die Tür und beobachtete, wie die Laternen des Wagens schnell durch die Dunkelheit daher kamen.
»Fährt sie allein?« fragte die Portiersfrau.
»Ja.«
»Und wie weit ist es von hier?«
»Fünfzig Meilen.«
»Welch weiter Weg! Mich wundert es nur, dass Mrs. Reed es wagt, sie die lange Strecke allein fahren zu lassen.«
Die Kutsche hielt an; da stand sie mit ihren vier Pferden und dem von Reisenden besetzten Dach vor der Tür; der Kutscher und der Kondukteur trieben laut zur Eile an; mein Koffer wurde hinauf gehisst; man zog mich von Bessie fort, deren Nacken ich umklammert hielt und die ich mit Küssen bedeckte.
»Dass Ihr nur gut acht auf das Kind gebt!« rief sie dem Kondukteur zu, der mich in das Innere des Wagens hob.
»Ja! Ja! Ja!« war seine Antwort. Die Tür wurde wieder zugeschlagen, eine Stimme rief »Fertig«, und vorwärts ging es. So trennte ich mich von Bessie und Gateshead – so rollte ich davon, unbekannten