Georgiana saß auf einem hochbeinigen Stuhl und ordnete ihr Haar vor dem Spiegel; in ihre Locken flocht sie künstliche Blumen und verblichene Federn, von denen sie einen ganzen Vorrat in einer Kiste auf der Bodenkammer gefunden hatte. Ich brachte mein Bett in Ordnung, denn Bessie hatte mir den strikten Befehl erteilt, damit fertig zu sein, bevor sie zurückkommen würde; sie benutzte mich jetzt häufig wie eine Art von zweitem Stubenmädchen, um das Zimmer aufzuräumen, den Staub von den Möbeln zu wischen u.s.w. – Nachdem ich die Bettdecke ausgebreitet und mein Nachtkleid zusammengefaltet hatte, ging ich an das Fensterbrett, um einige Bilderbücher und Möbel aus der Puppenstube, welche dort umherlagen, fortzuräumen; aber ein lauter Befehl Georgianas, ihre Spielsachen nicht anzurühren (denn die Liliput-Stühle und Spiegel, die Feen-Teller und Tassen waren ihr Eigentum) gebot meinem Tun Einhalt. In Ermangelung jeder anderen Beschäftigung fing ich jetzt an, auf die Eisblumen, welche die Kälte auf die Fensterscheiben gezaubert hatte, zu hauchen, und mir so eine kleine Öffnung auf dem Glase zu verschaffen durch welche ich in den Garten blicken konnte, wo der harte Frost alles getötet und versteinert hatte.
Durch dieses Fenster war die Loge des Portiers und die Fahrstraße sichtbar und gerade als ich so viel von dem silberweißen Laubgewinde, das die Scheiben verschleierte, fortgehaucht hatte, um hinausblicken zu können, sah ich, dass die Pforten geöffnet wurden und ein Wagen durch das Tor rollte. Mit größter Gleichgültigkeit verfolgte ich ihn, wie er vor das Haus rollte: es kamen ja so oft Wagen nach Gateshead, aber niemals brachten sie Besucher, für die ich auch nur das geringste Interesse hegte. Er hielt vor dem Hause, die Glocke wurde heftig gezogen; der Besucher erhielt Einlass. Da dieser ganze Vorgang mich nicht kümmerte, fand meine jetzt unbeschäftigte Aufmerksamkeit bald lebhaftere Anziehungskraft in dem Anblick eines kleinen, hungrigen Rotkehlchens, das sich piepend auf die entlaubten Zweige eines Spalierkirschenbaumes nahe am Fenster setzte. Die Überreste meines Frühstücks von Brot und Milch standen auf dem Tische und nachdem ich eine Semmel in Krümel zerrieben hatte, zog ich an dem Klappfenster, um die Brosamen auf das Fenstersims streuen zu können, als Bessie atemlos in die Kinderstube stürzte.
»Miss Jane, nehmen Sie Ihre Schürze ab; was machen Sie da? Haben Sie heute Morgen Gesicht und Hände schon gewaschen?« – Bevor ich antwortete, zog ich noch einmal an der Fensterklinke, denn ich wollte dem Vogel gern sein kleines Mahl sichern; die Klinke gab nach, ich streute die Brosamen aus, einige auf das steinerne Gesimse, andere auf die Zweige des Kirschbaumes; dann erst schloss ich das Fenster und entgegnete:
»Nein, Bessie, ich bin erst jetzt mit dem Aufräumen fertig geworden.«
»Unartiges, unordentliches Mädchen! Und was machen Sie da jetzt? Sie sehen so rot aus, als hätten Sie irgend ein Unheil angerichtet. Weshalb haben Sie das Fenster aufgerissen?«
Die Antwort blieb mir erspart, denn Bessie schien zu große Eile zu haben, um meinen Erklärungen Gehör schenken zu können; sie zerrte mich an den Waschtisch, unterwarf meine Hände und mein Gesicht einer erbarmungslosen aber glücklicherweise kurzen Waschung mit Seife, Wasser und einem groben Handtuch; ordnete meinen Kopf mit einer scharfen Bürste, entkleidete mich meiner Schürze und riss mich dann schnell an die Treppe, wo sie mir gebot, eilig hinunter zu gehen, da man mich im Frühstückszimmer erwarte.
Ich hätte gern gewusst, wer mich erwartete; gern hätte ich gefragt, ob Mrs. Reed dort sei; aber Bessie war schon wieder davon gelaufen und hatte die Kinderstubentür hinter sich geschlossen. Langsam stieg ich die Treppe hinunter. Seit fast drei Monaten hatte Mrs. Reed mich nicht mehr rufen lassen; seit dieser Zeit war ich auf die Kinderstube angewiesen gewesen, und das Frühstückszimmer, der Speisesaal und der Salon waren für mich Regionen geworden, die ich nur mit Schrecken und Angst betreten konnte.
Ich stand jetzt in der leeren Halle; vor mir war die Tür des Frühstückszimmers, zitternd und furchtsam hielt ich inne. Welch einen elenden kleinen Feigling hatte die Furcht vor ungerechter Bestrafung in jenen Tagen aus mir gemacht! Ich fürchtete mich, in die Kinderstube zurückzugehen; ich fürchtete mich, in das Wohnzimmer einzutreten! Zehn Minuten stand ich ängstlich zögernd da; das heftige Klingeln der Glocke im Frühstückszimmer entschied: ich musste eintreten.
»Wer konnte nach mir verlangen?« fragte ich mich, als ich mit beiden Händen die Türklinke erfasste, welche mehrere Sekunden meinen Anstrengungen widerstand. »Wen würde ich noch außer Tante Reed in dem Zimmer erblicken? – Einen Mann oder eine Frau?« – Die Klinke gab nach, die Tür sprang auf, ich trat ein, machte einen tiefen Knix, blickte auf und sah – einen schwarzen Pfeiler! – Als ein solcher erschien mir wenigstens auf den ersten Blick die lange, schmale, schwarzgekleidete Gestalt, welche kerzengerade vor dem Kamin stand: das ernste Gesicht, welches dieselbe krönte, sah aus wie eine geschnitzte Maske, die als Kapitäl auf die Säule gestellt war.
Mrs. Reed hatte ihren gewöhnlichen Platz neben dem Kamin inne. Sie machte mir ein Zeichen, näher zu treten. Ich tat es und sie stellte mich dem steinernen Fremden mit den Worten vor: »Dies ist das kleine Mädchen, um dessentwillen ich mich an Sie wandte.«
Er,