Nass und nebelig kam der Nachmittag heran; als die Dämmerung hereinbrach, begann ich zu fühlen, dass wir in der Tat schon weit von Gateshead entfernt sein mussten; wir hörten auf, Städte zu passieren; die Landschaft veränderte sich; große, graue Hügel begannen den Horizont einzuschließen. Als es dunkler und dunkler wurde, fuhren wir in ein düsteres, dicht bewaldetes Tal hinab, und lange nachdem die Nacht sich herabgesenkt hatte und jede Aussicht unmöglich machte, hörte ich den wilden Sturm durch die Bäume rauschen.
Dieses Rauschen lullte mich ein, endlich schlief ich fest. Doch hatte ich noch nicht lange geschlummert, als das plötzliche Aufhören der Bewegung mich weckte. Der Schlag der Postkutsche war geöffnet und eine Person, die wie eine Dienerin gekleidet war, stand daneben. Beim Schein der Laterne sah ich ihr Gesicht und ihre Kleidung.
»Ist ein kleines Mädchen hier, welches Jane Eyre heißt?« fragte sie. Ich antwortete »ja«, und wurde dann herausgehoben; man setzte meinen Koffer ab, und augenblicklich fuhr der Postwagen weiter.
Ich war steif vom langen Sitzen und ganz betäubt vom Lärm und von der Bewegung der Kutsche; nachdem ich mich einigermaßen erholt hatte, blickte ich umher. Regen, Wind und Dunkelheit füllten die Luft; trotzdem unterschied ich eine Mauer vor mir und eine geöffnete Tür in derselben. Durch diese Tür schritt ich mit meiner neuen Führerin; sie verschloss dieselbe sorgsam hinter uns. Jetzt wurde ein Haus oder ein Komplex von Häusern sichtbar – denn es war ein Gebäude von großer Ausdehnung – mit vielen, vielen Fenstern. Durch einige derselben fiel Lichterschein. Wir gingen einen breiten, mit Kies bestreuten Weg hinauf und wurden durch eine Tür in das Haus eingelassen, dann führte die Dienerin mich durch einen Korridor in ein Zimmer, wo ein helles Kaminfeuer brannte. Und nun blieb ich allein.
Ich stand und wärmte meine erstarrten Finger an der Glut, dann blickte ich umher. Es brannte kein Licht, aber bei dem unsicheren Schein des Kaminfeuers konnte ich tapezierte Wände, einen Teppich, Vorhänge und glänzende Mahagoni-Möbeln unterscheiden. Es war ein Wohnzimmer, zwar nicht so geräumig und prächtig wie der Salon in Gateshead-Hall, aber dennoch hübsch und gemütlich. Ich war grade damit beschäftigt, einen Kupferstich, welcher an der Wand hing, genau zu besichtigen, als die Tür geöffnet wurde und eine Gestalt eintrat, welche ein Licht in der Hand trug; eine zweite folgte ihr auf dem Fuße.
Die erste war eine schlanke Dame mit dunklem Haar, dunklen Augen und einer weißen, hohen Stirn; ihre Gestalt wurde zum Teil durch einen Shawl verhüllt; ihr Gesicht war ernst, ihre Haltung gerade.
»Das Kind scheint doch zu jung, um diese Reise allein zu machen«, sagte sie, indem sie das Licht auf den Tisch stellte. Mehrere Minuten betrachtete sie mich aufmerksam, dann fügte sie hinzu:
»Es wird gut sein, wenn sie bald zu Bette geht, sie sieht so müde aus. Bist du müde?« fragte sie und legte ihre Hand auf meine Schulter.
»Ein wenig, Madame.«
»Und auch hungrig, ohne Zweifel. Sorgen Sie dafür, Miss Miller, dass sie etwas zu essen bekommt, bevor sie sich schlafen legt. Ist es das erste Mal, dass du deine Eltern verlassen hast, mein kleines Mädchen, um hier in die Anstalt zu kommen?«
Ich erklärte ihr, dass ich keine Eltern habe. Sie fragte mich, wie lange sie schon tot seien; dann wie alt ich sei, wie ich heiße, ob ich lesen könne und auch schreiben und ein wenig nähen. Endlich berührte sie meine Wange sanft mit ihrem Zeigefinger und sagte, »sie hoffe, dass ich ein gutes Kind sein würde«, und dann schickte sie mich mit Miss Miller fort.
Die Dame, die ich soeben verlassen, mochte ungefähr neunundzwanzig Jahre alt sein. Die, welche mit mir ging, konnte um einige Jahre weniger zählen; die erstgenannte machte durch ihre Mienen, ihren Blick und ihre Stimme einen großen Eindruck auf mich. Miss Miller war von gewöhnlicherem Schlage, ihr Teint war gesund, obgleich ihre Züge die Spuren von Kummer und Sorgen trugen; sie war hastig in Gang und Bewegungen wie jemand, der fortwährend eine Menge der verschiedensten Dinge zu besorgen hat; in der Tat, man sah auf den ersten Blick, dass sie war, was ich späterhin erfuhr – eine Unterlehrerin. Von ihr geführt, ging ich von Zimmer zu Zimmer, von Korridor zu Korridor durch ein großes, unregelmäßiges Gebäude. Endlich hörte die vollständige und trübselige Stille des von uns durchschrittenen Teiles des Hauses auf, und bald schlug ein Gewirr von Stimmen an unser Ohr. Wir traten in ein großes, langes Zimmer, in welchem an jedem Ende zwei große, hölzerne Tische standen; auf diesen brannten zwei Kerzen und rund um dieselben saßen auf Bänken eine Menge von Mädchen jeden Alters, von neun, zehn bis zu zwanzig Jahren. In dem trüben Schein der Talgkerzen schien ihre Anzahl mir Legion, obgleich ihrer in Wirklichkeit nicht mehr als achtzig waren. Sie trugen sämtlich eine Uniform von braunen wollenen Kleidern nach ganz altmodischem Schnitt und lange, baumwollene Schürzen. Es war die Stunde, in welcher sie ihre Aufgaben für den morgenden Tag lernten und das Gesumme von Stimmen, welches ich zuerst vernommen, war das vereinigte Resultat ihrer geflüsterten Repetitionen.
Miss Miller machte mir ein Zeichen, mich auf eine Bank nahe der Tür zu setzen; dann ging sie an das obere Ende des großen Zimmers und rief mit sehr lauter Stimme:
»Aufseherinnen, sammelt die Schulbücher zusammen und legt sie an ihren Platz!«
Augenblicklich erhoben sich vier große Mädchen von verschiedenen Tischen, nahmen die Bücher zusammen und legten sie fort. Von neuem ertönte Miss Millers tönendes Kommandowort:
»Aufseherinnen, holt die Bretter mit dem Abendessen!«
Die großen Mädchen gingen hinaus und kehrten augenblicklich zurück. Jede trug ein großes Präsentierbrett mit Portionen von irgendwelchem Essen – ich konnte nicht unterscheiden, was es war – und in der Mitte eines jeden solchen Brettes stand ein Krug mit Wasser und ein Becher. Die Portionen wurden umher gereicht, wer wollte, konnte auch einen Schluck Wasser trinken, der Becher war für alle gemeinsam bestimmt. Als die Reihe an mich kam, trank ich, denn ich war durstig;