»Sprich mir nicht von ihr, John; ich habe dir gesagt, dass du ihr nicht zu nahe kommen sollst; sie ist nicht einmal deiner Beachtung wert; ich will nicht, dass du oder eine deiner Schwestern mit ihr etwas zu tun haben.«
In diesem Augenblick lehnte ich mich über das Treppengeländer und schrie plötzlich ohne im geringsten über meine Worte nachzudenken:
»Sie sind nicht wert, mit mir zu verkehren.«
Mrs. Reed war eine ziemlich starke Frau; als sie indessen diese seltsamen und frechen Worte vernahm, kam sie ganz leichtfüßig die Treppe herauf gelaufen, zog mich mit Windeseile in die Kinderstube und indem sie mich an die Seite meines kleinen Bettes drückte, verbot sie mir mit pathetischer Stimme, mich von dieser Stelle fortzurühren und während des ganzen Tages auch nur noch ein einziges Wort zu sprechen.
»Was würde Onkel Reed jetzt sagen, wenn er noch lebte?« war meine fast willenlos getane Frage. Ich sage, »fast willenlos«, denn es war, als spräche meine Zunge diese Worte aus, ohne dass mein Wille darum wusste. – Es sprach etwas aus mir, worüber ich keine Gewalt hatte.
»Was?« zischte Mrs. Reed fast unhörbar; in ihrem sonst so kalten, ruhigen, grauen Auge blitzte etwas auf, das der Furcht glich; sie ließ meinen Arm los und blickte mich an, als wisse sie nicht recht, ob ich ein Kind oder ein Teufel sei. Jetzt fasste ich Mut.
»Mein Onkel Reed ist im Himmel und kann alles sehen, was Sie tun und sagen; und mein Vater und meine Mutter auch; sie wissen, dass Sie mich den ganzen Tag einsperren und dass Sie nur wünschen, ich wäre tot.«
Mrs. Reed war schnell wieder gefasst; sie schüttelte mich heftig, sie ohrfeigte mich aus allen Kräften und verließ mich dann ohne eine Silbe zu sprechen. Bessie füllte diese Lücke aus, indem sie mir eine stundenlange Strafpredigt hielt, in welcher sie mir ohne jeden Zweifel bewies, dass ich das elendeste und pflichtvergessenste Kind sei, das jemals unter einem Dache erzogen worden. Halb und halb glaubte ich ihr; denn ich empfand selbst, wie in diesem Augenblick nur böse Gefühle in meiner Brust tobten.
November, Dezember und die Hälfte des Januar gingen vorüber. Das Weihnachtsfest und Neujahr waren in Gateshead in der üblichen fröhlichen Weise gefeiert worden; Geschenke waren nach allen Seiten hin ausgeteilt und Mittag- und Abendgesellschaften gegeben. Von jeder Feier und Festlichkeit war ich natürlich ausgeschlossen; mein Anteil an diesen bestand darin, dass ich täglich mit ansehen musste, wie Eliza und Georgiana auf das schönste herausgeputzt in ihren zarten Muslinkleidern und rosenroten Schärpen, mit sorgsam gelocktem Haar, in den Salon hinabgingen; und später horchte ich dann auf die Töne des Klaviers oder der Harfe, die zu mir herauf drangen; hörte, wie der Kellermeister und die Diener hin und her liefen, wie die Teller klapperten und die Gläser klangen, während die Erfrischungen umher gereicht wurden; und wenn die Türen des Salons geöffnet und wieder geschlossen wurden, drangen sogar abgebrochene Sätze der Konversation an mein Ohr. Wenn ich des Lauschens müde geworden, verließ ich meinen Posten auf dem Treppenabsatz und ging in die stille, einsame Kinderstube zurück; dort, wenn ich auch traurig war, fühlte ich mich wenigstens nicht elend. Offen gestanden, hegte ich nicht das leiseste Verlangen, in Gesellschaft zu gehen, denn in der Gesellschaft schenkte mir selten irgendjemand Beachtung; und wenn Bessie nur ein wenig liebenswürdig und freundlich gewesen wäre, so hätte ich es für eine Bevorzugung angesehen, die Abende ruhig mit ihr anstatt unter den gefürchteten Augen von Mrs. Reed, in einem Kreise von mir unsympathischen Herren und Damen zubringen zu dürfen. Aber sobald Bessie ihre jungen Damen angekleidet hatte, pflegte sie sich in die lebhafteren Regionen der Küche und des Zimmers der Haushälterin hinunter zu begeben und gewöhnlich auch noch die Lampe mit fortzunehmen. Dann saß ich da mit meiner Puppe im Arm, bis das Feuer herabgebrannt war, und blickte zuweilen ängstlich umher, um mich zu vergewissern, dass sich nichts schlimmeres als ich selbst in dem düsteren Zimmer befand; wenn sich dann nur noch ein Häufchen glühend roter Asche auf dem Roste befand, entkleidete ich mich hastig, riss und zerrte aus allen Kräften an den Bändern und Knöpfen meiner Röcke und suchte in meinem Bettchen Schutz vor der Kälte und der Dunkelheit. In dieses Bettchen nahm ich auch stets meine Puppe mit; jedes menschliche Wesen muss etwas lieben, und da mir jeder andere Gegenstand für meine Liebe fehlte, fand ich meine Glückseligkeit darin, ein farbloses, verblasstes Gebilde zu lieben, das noch hässlicher als eine Miniatur-Vogelscheuche war. In der Erinnerung scheint es mir jetzt unbegreiflich, dass ich mit so alberner Zärtlichkeit an diesem kleinen Spielzeug hängen konnte; oft bildete ich mir ein, dass es lebendig sei und mit mir empfinden könnte. Ich konnte nicht schlafen, wenn ich es nicht in die Falten meines Nachthemdchens gehüllt hatte, und wenn es dort sicher und warm lag, fühlte ich mich verhältnismäßig glücklich, weil ich glaubte, dass es ebenfalls glücklich sein müsse.
Wie lang schienen mir die Stunden, wenn ich auf das Fortgehen der Gesellschaft wartete und auf den Wiederhall von Bessies Tritten auf der Treppe horchte. – Zuweilen kam sie auch in der Zwischenzeit herauf, um ihren Fingerhut und ihre Schere zu suchen oder mir irgend etwas zum Abendbrot, vielleicht einen Käsekuchen oder ein Milchbrot herauf zu bringen; dann pflegte sie auf der Bettkante zu sitzen, während ich aß, und wenn ich fertig war, wickelte sie mich fest in die Decken und küsste mich zweimal und sagte: »Gute Nacht, Miss Jane.« Wenn Bessie so sanft war, erschien sie mir wie das beste, hübscheste, freundlichste Geschöpf auf der Welt; und dann wünschte ich so innig, dass sie stets so fröhlich und liebenswert sein und mich niemals wieder umherstoßen oder schelten oder mich ungerecht beschuldigen möchte, wie es doch meistens ihre Gewohnheit war. Ich glaube, dass Bessie Lee ein Mädchen mit guten natürlichen Anlagen gewesen sein muss, denn in allem, was sie tat, war sie flink und geschickt,