Unter seinem Nachfolger Pollio scheint es keine weiteren Judenverfolgungen mehr gegeben zu haben. Doch die Streitigkeiten zwischen der nichtjüdischen Majorität und den Juden in Alexandria dauerten an. Kaiser Claudius (41–54) erließ unmittelbar nach seinem Herrschaftsantritt im Jahre 41 ein Edikt, durch das den alexandrinischen Juden zwar alle ihre früheren Privilegien erneut verbürgt wurden, durch das aber die Verbesserung ihres politischen Status eine kategorische Ablehnung erfuhr.
Kurz nach dem Ausbruch des jüdischen Krieges im Jahre 66 eskalierte der schwelende Konflikt zwischen Juden und Griechen in Alexandria erneut. Beide Parteien nutzten die vermeintliche Ablenkung bzw. Schwächung der Römer in Alexandria durch den Ausbruch des Aufstandes in Judäa, um alte Rechnungen mit ihren Gegnern zu begleichen. Der römische Präfekt Tiberius Julius Alexander versuchte zunächst vergeblich, den Konflikt durch Verhandlungen zu beenden, und setzte schließlich die beiden in Alexandria stationierten Legionen ein, um die Stadt gewaltsam zu befrieden. Nach dem Abzug der römischen Truppen wütete der alexandrinische Mob weiter und zwang viele Überlebende dazu, die Stadt zu verlassen.
Die Auswirkungen der Einnahme Jerusalems und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch Titus im Jahre 70 waren auch in Ägypten zu spüren. Die von den ägyptischen Juden alljährlich entrichtete Schekelsteuer (vgl. Ex 30,11–16; Neh 10,33), die für den Unterhalt des Jerusalemer Tempels bestimmt war, wurde von den Römern in eine an den Tempel des Jupiter Capitolinus in Rom zu entrichtende jährliche Kopfsteuer, den Fiscus Iudaicus, umgewandelt. Zugleich kamen mit den Flüchtlingen und Kriegsgefangenen aus Judäa auch Gruppen von jüdischen Eiferern nach Ägypten und verbreiteten hier ihre militant-apokalyptische Ideologie. Dafür, dass Rom den zelotischen Einfluss in der Provinz Aegyptus als Sicherheitsrisiko betrachtete, spricht die Schließung des jüdischen Tempels in Leontopolis. Kaiser Vespasian (69–79) schien zu fürchten, dass sich hier eine neue jüdische Aufstandsbewegung formieren könnte.
Im Jahre 113 eskalierten die Spannungen zwischen dem jüdischen Ethnos und den hellenistischen Polisbürgern, deren Verhältnis von tiefsten gegenseitigen Ressentiments gekennzeichnet war, von neuem. Neben den bestehenden Konflikt, der seine Wurzeln in der speziellen Situation der Stadt hatte, traten nun auch jüdische Hoffnungen auf eine baldige radikale Umgestaltung der Welt durch Gottes Eingreifen. Fanatisierte ägyptische Juden begannen einen Vernichtungskrieg mit dem Ziel der Eroberung, zumindest der Zerstörung der nichtjüdischen Territorien. Ebenso wie in anderen westlichen Reichsteilen, der Kyrenaika, in Mesopotamien und auf Zypern, kam es in ganz Ägypten zu jüdischen Terroraktionen gegen öffentliche Einrichtungen und Tempel.
Die Unruhen in Ägypten drohten die Versorgung der römischen Legionen mit Getreide zu gefährden. Kaiser Trajan beauftragte den Flottenbefehlshaber und Feldherrn Marcius Turbo damit, die Aufstände möglichst rasch niederzuschlagen; im Sommer des Jahres 116 gelang es ihm, die Ordnung im Westen wiederherzustellen. Die von den Römern entwaffneten ägyptischen Juden wurden nun ihrerseits verfolgt. Griechen und Ägypter rächten sich an der jüdischen Bevölkerungsgruppe Ägyptens, die sie unterschiedslos für die Auseinandersetzungen verantwortlich machten.
Das einstmals blühende ägyptische Judentum, dessen Hauptcharakterzug in der tiefgreifenden und fruchtbaren Symbiose von biblischer und hellenistischer Kultur bestand, erholte sich nie wieder von dieser Katastrophe. Die eigenständige kulturelle und religiöse hellenistisch-jüdische Tradition aufrechtzuerhalten und weiterzuführen, war den ägyptischen Juden fortan nur noch in sehr begrenztem Umfang möglich. Die Rabbinen (vgl. Kap. 2, Exkurs: Der Rabbiner) griffen die hellenistisch-jüdischen Traditionen nicht auf und führten sie nicht weiter. Erst gegen Ende des zweiten Jahrhunderts ist wieder die Existenz vereinzelter jüdischer Ansiedlungen in Ägypten epigraphisch oder papyrologisch belegt.
Mittelalter
Palästina
Nachdem der Sassanidenkönig Chosrau II. (588–628) nach seinem siegreichen Vormarsch durch Kleinasien und Syrien im Jahre 614 Jerusalem erobert hatte, übergab er die Stadt zunächst den hier lebenden Juden. Man vertrieb die verhassten Unterdrücker und übernahm ihre Kirchen. Nur drei Jahre später arrangierten sich die Perser jedoch mit der noch immer mehrheitlich christlichen Stadtbevölkerung und setzten die jüdischen Führer wieder ab. Als der byzantinische Kaiser Herakleios (610–641) Jerusalem schließlich zurückeroberte (628), rächte er sich an den Verrätern, indem er sie vertreiben ließ und das alte Dekret Hadrians (vgl. Kap.1, Exkurs: Qumran) erneuerte.
Nach den Verfolgungen der byzantinischen Zeit wurde die nach langer Belagerung der Stadt erfolgte Einnahme Jerusalems durch die Araber im Jahre 638 von den wenigen in der Stadt verbliebenen Juden als Befreiung gefeiert. Zwar hatte Sophronius, der Patriarch von Jerusalem, bis zuletzt versucht, in seinen Kapitulationsbedingungen das Wohnen von Juden in der heiligen Stadt zu verhindern, doch setzte sich der siegreiche Kalif Omar I. (634–644) bald darüber hinweg. Der milde Herrscher gestattete 70 jüdischen Familien, sich in einem eigenen Wohnviertel südwestlich vom Tempelberg niederzulassen. Nicht wenige von ihnen traten in den folgenden Jahrzehnten zum Islam über, zumal dies geringere theologische Entscheidungen erforderte als der Übertritt zum Christentum.
Unter dem Kalifat der Omajaden in Damaskus (661–750) und der Abbasiden in Bagdad (750–969) begannen die jüdischen Gemeinden in Palästina langsam wieder zu wachsen. Bedeutende Rabbinen kamen mit ihren Schülerkreisen aus Tiberias und setzten ihren Lehrbetrieb in Jerusalem, das die Araber »Al-Quds« (»die heilige [Stadt]«) nennen, fort. Seit dem 9. Jahrhundert siedelten sich hier auch Angehörige der Karäer (von hebr. »kara« = »lesen«) an, einer von dem babylonisch-jüdischen Gelehrten Anan ben David im 8. Jahrhundert gegründeten asketischen jüdischen Bewegung, die die rabbinische Tradition ablehnte und sich in ihrer Lehre allein auf die Bibel stützte. Der Name der Bewegung reflektiert die hohe Bedeutung, die sie den heiligen Schriften beimaßen. Bedeutende karäische Gelehrte gingen in den folgenden Jahrhunderten aus Jerusalem hervor.
Im Mittelalter lebte der größere Teil des Judentums im islamischen Herrschaftsbereich. Der sogenannte »Omar-Vertrag« (Anfang 8. Jahrhundert) setzte den begrenzten rechtlichen Status dieser jüdischen Minorität unter dem Islam fest. Die jüdische Minderheit war abhängig vom Wohlwollen der muslimischen Herrscher bzw. der Mehrheitsgesellschaft und übernahm – wie alle vom Islam unterworfenen Völker – die Sprache ihrer Eroberer, musste eine besondere Kopfsteuer zahlen und war zu Einschränkungen in der Lebensführung gezwungen, die die Überlegenheit des Islams zum Ausdruck bringen sollten. Weder war es ihnen gestattet, Waffen zu tragen oder Siegelringe zu besitzen, noch Muslime zu beerben, muslimische Frauen zu heiraten oder muslimische Sklaven zu halten. Sie durften keine neuen Synagogen bauen, keine Mission treiben und keine staatlichen Ämter bekleiden. Sie mussten besondere Steuern zahlen und unter manchen Herrschern Signalkleidung tragen. Allein ihre körperliche Unversehrtheit, ihr Recht auf persönlichen Besitz und die innere Autonomie ihrer Gemeinden wurden ihnen garantiert.
Mit dem Verfall des Kalifats und der hierdurch ausgelösten politischen und wirtschaftlichen Unsicherheit in Palästina begann ein stetiger Zustrom verarmter jüdischer Bauern nach der Stadt Jerusalem. Mit der Landflucht ging eine Neuorientierung des jüdischen Erwerbslebens einher. Hatten zuvor die meisten Juden von der Landwirtschaft gelebt, so wandten sich die Zugezogenen nun dem Handwerk und dem Handel zu, um zu überleben. Im 10. Jahrhundert finden wir in Jerusalem Juden in 250 verschiedenen Handwerken. Auch das religiöse Leben in den jüdischen Gemeinden hatte sich differenziert. Im 11. Jahrhundert lebten in Palästina sowohl rabbanitische Gemeinden als auch Samaritaner (vgl. Kap. 1, Das Mutterland) und Karäer (s. o.).
Der muslimische Geograph Mukaddasi (967–985) schilderte in seinem Reisebericht die beklagenswerten Zustände in der arabischen Provinzstadt Jerusalem: »Der Vergewaltigte findet keinen Helfer, der Vornehme ist in Sorgen und der Reiche beneidet. Der Rechtsgelehrte ist verlassen, der Sprachkundige wird nicht besucht; keine Forschungssitzung wird gehalten, kein Lehramt betrieben, Christen und Juden haben die Oberhand und die Moscheen bleiben ohne gottesdienstliche und gelehrte Versammlungen.« Wahrscheinlich richtete sich diese ausführliche Klage eher gegen die vom Autor befürchtete Verwässerung der muslimischen Lebensführung als gegen eine nichtmuslimische Vorherrschaft im wirtschaftlichen und kulturellen Leben.