Im Jahre 1099 fiel Jerusalem in die Hände der Kreuzfahrer (vgl. Kap. 1, Das Frankenreich und Deutschland). Diese richteten unter den Juden, die an der Verteidigung der Stadt beteiligt waren, ein Blutbad an, trieben sie in der Hauptsynagoge zusammen und steckten das Gebäude in Brand. Wer nicht getötet wurde, floh oder wurde vertrieben. Viele alte jüdische Grabdenkmäler verbauten die christlichen Eroberer in den von ihnen errichteten Kirchen. Die Kreuzfahrer erneuerten das Niederlassungsverbot im christlichen Königreich Jerusalem. Im 12. Jahrhundert wurde den wenigen Jerusalemer Juden, die in der Stadt geblieben waren, wieder Wohnrecht und beschränkte Gewerbefreiheit eingeräumt. Jedoch mussten sie hohe Steuern zahlen und durften keinen Grund- oder Immobilienbesitz erwerben. Der jüdische Reisende Benjamin bar Jona aus der nordspanischen Stadt Tudela traf im Jahre 1168 in Palästina ein und berichtete aus Jerusalem: »Es ist eine kleine, mit drei Stadtmauern stark befestigte Stadt. In ihr leben viele Menschen; die Muslime nennen sie Jakobiten, Aramäer, Griechen, Georgier und Franken. Leute aller Sprachen trifft man dort. In der Stadt gibt es eine Färberei, für die die Juden jedes Jahr von neuem beim König den Kaufpreis bezahlen müssen, damit sich in Jerusalem niemand anderes mit Färberei befasst als die Juden allein. Es sind ihrer etwa zweihundert. Die Juden wohnen um den Davidsturm in einem Winkel der Stadt.«
Nach der Vertreibung der Kreuzfahrer durch Saladin (1175–1193) im Jahre 1187 siedelten sich unter der Förderung der muslimischen Herrscher allmählich wieder Juden in Jerusalem an. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts existierten wieder größere jüdische Gemeinden in Palästina. Zahlreiche jüdische Zuwanderer kamen aus Nordafrika und Spanien, manche sogar aus Frankreich und England. Im Jahre 1260 fielen die Mongolen in das Land ein und verwüsteten es. Erneut flohen die überlebenden Juden aus den Trümmern Jerusalems in die umliegenden Gebiete. Im 14. Jahrhundert hatte sich die Situation abermals entspannt. Ein jüdischer Reisender berichtet im Jahre 1333 von einer »multiethnischen« Synagogengemeinde in Jerusalem, der viele Einwanderer, darunter Handwerker, Kleinhändler und auch einige Gelehrte, angehörten. Als der Sultan von Ägypten im Jahre 1440 der armen Gemeinde Jerusalems hohe Sondersteuern auferlegte und die alteingesessenen arabischen Juden damit beauftragte, diese Steuern einzutreiben, wälzten diese den Hauptteil der Lasten auf die Einwanderer ab, und die Gemeinde drohte sich zu entzweien. Erst dem bedeutenden Gelehrten Obadja ben Abraham Bertinoro (ca. 1450–1516) gelang es, als Rabbiner in Jerusalem die gespaltene Gemeinde zu konsolidieren.
Die östliche Diaspora
Unter der Herrschaft der Parther hatten die babylonischen Juden in weitgehender Autonomie in langen Perioden des Friedens gelebt, die jedoch immer wieder von Phasen der Unterdrückung und Verfolgung unterbrochen wurden. Ebenso wie die Juden in Palästina lebten sie nach dem Vordringen der muslimischen Araber fortan als »Ahl al-Kitab« (»Volk des Buches«) und als »Dhimmis«, d. h. als tolerierte und besteuerte »Beschützte« minderen Rechts. Die Dhimmis rangierten im öffentlichen Bewusstsein sozial niedriger. Auch die Exilarchen (vgl. Kap. 1, Antike) und Oberhäupter der rabbinischen Schulen (vgl. Kap. 2, Exkurs: Der Rabbiner), als deren bedeutendste die Akademien von Sura und Pumbedita – und später die Akademie von Bagdad – galten, mussten von den muslimischen Behörden approbiert werden. Im Jahre 849 verordnete der Kalif Mutawwakil (847–861) Signalkleidung für Juden und Christen in seinem Herrschaftsbereich, durch die sie sich von der muslimischen Bevölkerungsmehrheit unterscheiden sollten (vgl. Kap. 1, Spanien und Südfrankreich).
Die rabbinischen Schulen Babyloniens hatten nach dem Niedergang der palästinischen Akademien seit dem 4. Jahrhundert ihre Machtstellung genutzt, um ihre Lehrtraditionen durchzusetzen. Im islamischen Babylonien galt die Autorität der jüdischen Exilarchen weiter. Die jüdischen Akademien, deren Oberhaupt und höchste Lehrautorität bis ins 11. Jahrhundert der »Gaon« (»Erhabenheit«) war, erlangten bald autoritative Geltung überall in der Diaspora. Der babylonische Talmud (vgl. Kap. 2, Der babylonische Talmud) wurde zur Grundlage aller halachischen (vgl. Kap. 2, Die rabbinische Traditionsliteratur) Entwicklungen. Die babylonische Liturgie verdrängte ebenso wie die babylonische Texttradition der Bibel konkurrierende Überlieferungen. Die rabbinischen Gelehrten im frühmittelalterlichen Zweistromland genossen höchstes Ansehen in der gesamten Diaspora und verfassten immer wieder Responsen (vgl. Kap. 2, Responsen) zur Beantwortung der zahlreichen rechtlichen Anfragen aus den Diasporagemeinden.
Ein bedeutendes Oberhaupt einer babylonischen rabbinischen Akademie war Saadja ben Josef Gaon (882–942). Das Schuloberhaupt von Sura gilt als der eigentliche Begründer der mittelalterlichen jüdischen Religionsphilosophie. Saadja Gaon verfasste arabische Übersetzungen und Kommentierungen biblischer Bücher, halachische und philosophische Schriften, ein hebräisches Wörterbuch, ein Gebetbuch (vgl. Kap. 3, Der synagogale Gottesdienst) für Wochentage, Sabbate und Feste, das als das erste erhaltene jüdische Gebetbuch überhaupt gilt, zahlreiche synagogale Dichtungen sowie Streitschriften gegen die Karäer (vgl. Kap. 1, Mittelalter).
Der Kulturkreis des babylonischen Judentums erstreckte sich bis in die Gebiete des heutigen Afghanistan und Zentralasien. Babylonische Juden zogen entlang der Seidenstraße bis in den fernen Osten, wo sie sich in Kolonien niederließen. Seit dem 7. Jahrhundert gelangten viele Juden aus Babylonien in die ebenfalls islamisch dominierten Länder Nordafrikas und nach dem Sieg der Mauren über die Westgoten (711) bis nach Spanien und in Teile Südfrankreichs. Mit dem sefardischen Judentum im Einflussbereich des Islams, das die Traditionen des babylonischen Judentums fortsetzte (vgl. Obd 20), und dem aschkenasischen Judentum in den Ländern nördlich der Alpen (Gen 10,3; Jer 51,27), in dem sich bald bedeutende Zentren jüdischer Gelehrsamkeit herausbildeten, entstanden zwei jüdische Strömungen mit jeweils eigenständiger religiöser Tradition und Kultur. Sefardische und aschkenasische Juden unterscheiden sich bis heute durch unterschiedliche halachische Traditionen und liturgische Formen, Gebete, Melodien und Aussprachetraditionen des Hebräischen. Die aschkenasische Tradition blieb vor allem in den osteuropäischen Gemeinden lebendig. Bedeutende sefardische Gemeinden gibt es heute vor allem in den U.S.A., Israel, Frankreich und England.
Mit dem Niedergang der rabbinischen Schulen Babyloniens im 11. Jahrhundert und dem gleichzeitigen Erstarken des Judentums im Westen Europas, auf der Iberischen Halbinsel, z. B. in Sevilla, Granada und Córdoba (vgl. Kap. 1, Spanien und Südfrankreich) oder in den Rheinstädten, z. B. Speyer, Worms und Mainz (vgl. Kap. 1, Das Frankenreich und Deutschland), verlagerte sich auch die kulturelle Prägung der jüdischen Religion.
Die Chasaren
Dem von einer jüdischen Dynastie beherrschten Reich der Chasaren zwischen Wolga und Don kam zwischen dem 8. und dem 10. Jahrhundert eine wichtige Mittlerrolle zwischen den verschiedenen Kulturkreisen zu. Das ausgedehnte Chasarenreich entstand auf der Basis eines losen Zusammenschlusses halbnomadischer Turkstämme unter der Führung des Khagans, der als göttlich beauftragter Garant für das Wohlergehen seines Volkes zu sorgen hatte. Mit dem Zusammenschluss der Stämmeverbände ging die wachsende außenpolitische Bedeutung des Reiches und des chasarischen Söldnerheeres einher. Das Judentum fand zunächst allein Eingang in die schmale städtische Oberschicht, während in der Mehrheit der Bevölkerung die schamanistisch geprägten traditionellen Religionen dominant blieben. Grundlage der chasarischen Ökonomie war zwar die Landwirtschaft, aber auch dem Fernhandel, insbesondere auf der Nordroute der Seidenstraße, kam eine große wirtschaftliche Bedeutung zu.
Die Oberschicht des Chasarenreiches favorisierte die jüdische Religion vor allem aus politischen Beweggründen, denn die Annahme des Christentums oder des Islams wäre einer Unterordnung unter eine der beiden benachbarten Mächte gleichgekommen. Vor allem machtpolitische Gründe waren auch für die sukzessive Verdrängung der nichtrabbinischen Strömungen innerhalb des chasarischen Judentums verantwortlich. Die Bedeutung des Judentums als Religion der Herrschenden im Chasarenreich begünstigte seine Ausbreitung. Jüdische Gemeinden entstanden und wuchsen nicht nur in den urbanen Zentren des Reiches, sondern auch entlang der Fernhandelswege. Sein fehlender innerer Zusammenhalt und die zunehmende äußere Bedrohung durch Byzanz und Islam, die ihre machtpolitischen Einflusssphären