Qumran
In elf Höhlen nahe Chirbet Qumran, einer antiken Ansiedlung 12 Kilometer südlich von Jericho am Nordwestufer des Toten Meers, sind seit 1947 zahlreiche Handschriften gefunden worden. Unter diesen Textfunden sind biblische Bücher in Abschriften und Übersetzungen, Bibelkommentare, jüdische religiöse Schriften, die vorher nur in christlicher Überlieferung bekannt waren, sowie »Sektenschriften«, die Aussagen über die Lebensweise und den Glauben ihrer Verfasser ermöglichen. Der Großteil dieser Textfunde ist mittlerweile als Textausgaben und in Übersetzungen allgemein verfügbar. Ein gravierendes Problem bei ihrer Auswertung ergibt sich jedoch aus ihrem heterogenen Charakter. Die Qumransiedlung existierte von der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. bis zu ihrer Zerstörung (68/69). Die bei Qumran gefundenen Schriften repräsentieren eine ebenso große Zeitspanne. Die Texte dürfen deshalb nicht unterschiedslos zur Rekonstruktion eines generellen Charakters und einer einheitlichen Glaubensüberzeugung ihrer Eigentümer herangezogen werden. Terminologische und inhaltliche Ähnlichkeiten bestehen allerdings zwischen der »Sektenregel« (1QS), der »Hymnenrolle« (1QH) und der »Kriegsrolle« (1QM). Alle drei Sektenschriften stammen wohl aus der Zeit der Hasmonäerherrschaft (vgl. Kap. 1, Exkurs: Tempel und Tempelopfer).
Ein verbreitetes Bild der Qumransiedlung, das sich aus diesen Quellen ergibt, zeigt eine isolationistische priesterliche Gemeinschaft, deren Leben und Frömmigkeit von der Trennung vom Jerusalemer Tempel und dem dort gültigen Kultkalender (vgl. Kap. 3, Feste und Gedenktage im Jahreszyklus, bzw. Die jüdische Zeitrechnung), dem Ideal priesterlicher Reinheit und dem Anspruch, das wahre Gottesvolk der Endzeit zu sein, bestimmt waren. Ihr außergewöhnliches Reinheitsstreben auch im Alltag, ihre endzeitliche Orientierung, ihr dualistisches Weltbild und ihre militante, romfeindliche Mentalität gründeten in einer angespannten eschatologischen Naherwartung. Die Anhänger der wahrscheinlich aus der Jerusalemer Priesterschaft hervorgegangenen Gemeinschaft verstanden sich angesichts des von ihnen in naher Zukunft erwarteten Weltendes und drohenden Gottesgerichts als die »Söhne des Lichts«, als das wahre Israel der Endzeit und die einzigen wahren Bewahrer der priesterlichen Tradition. Ihr apokalyptisches Gerichtsverständnis diente ihnen dazu, ihre Gemeinschaft zu stabilisieren, indem vor allen Dingen die erwartete Bestrafung der »Söhne der Finsternis« – nämlich aller Feinde Gottes – und das Heil für die Gerechten und Auserwählten – nämlich die eigene Gruppe – das Bild ihrer Gerichtserwartung bestimmten.
Man geht heute mehrheitlich davon aus, dass zwischen der Qumransiedlung und den von Philon von Alexandria (vgl. Kap. 2, Philon von Alexandrien) und Flavius Josephus (vgl. Kap. 2, Flavius Josephus) erwähnten Essenern ein Zusammenhang besteht. Jedoch sprechen auch Gründe gegen eine pauschale Identifikation: In Qumran wurde keine Entsprechung des Namens »Essener« gefunden. Josephus weiß nichts von der dortigen Siedlung. Allein der römische Schriftsteller Plinius der Ältere (ca. 23–79) weist in seiner »Naturgeschichte« auf eine essenische Siedlung am Toten Meer hin. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die antiken Essenerberichte diese Gemeinschaft in idealisierender Weise verzeichnen. Was Josephus und Philon beschreiben, deckt sich zwar zum Teil mit den Aussagen der Sektenschriften, ist jedoch über weite Strecken idealisierendes Programm. Das Essenerbild beider Autoren ist geprägt von ihrer Absicht, sie nach den Idealen zeitgenössischer hellenistischer Philosophenschulen als nachahmenswerte jüdische Gemeinschaft von beispielhafter Gesinnung und mit mustergültigem Lebenswandel zu zeichnen. In den letzten Jahren mehren sich zudem die Stimmen derjenigen Wissenschaftler, die aufgrund des archäologischen Befundes bezweifeln, dass die Schriftrollen von Qumran überhaupt einer klar konturierbaren Glaubensgemeinschaft gehörten, die sich mit ihrem Inhalt identifizierte. Sie halten es vielmehr für möglich, dass Jerusalemer Priester sie während des jüdischen Krieges vor den Römern in den unzugänglichen Höhlen am Toten Meer versteckt haben.
Texte: J. Maier, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer, 3 Bde., München, Basel 1995f.; Ders., Die Tempelrolle vom Toten Meer und das »Neue Jerusalem«, München, Basel 31997.
Literatur: J. C. VanderKam, Einführung in die Qumranforschung, Göttingen 1998; U. Dahmen u.a., Qumran – Bibelwissenschaften – Antike Judaistik, Paderborn 2006; Y. Hirschfeld, Qumran – die ganze Wahrheit, Gütersloh 2006.
Ägypten
Bereits seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. ließen sich jüdische Flüchtlinge und freigelassene Sklaven in Ägypten nieder, so z. B. in Leontopolis, Oxyrrhynchos, Theben, Arsinoë und auch auf der Nilinsel Elephantine, einer Garnison an der Südgrenze des Landes. Der Perserkönig Kambyses II. (gest. 522 v. Chr.) unterwarf diese große jüdische Diasporagemeinde im Jahre 525 v. Chr. der Kontrolle durch das persische Großreich. Die knapp zwei Jahrhunderte später von Alexander dem Großen nach seinem Sieg über den Perserkönig Darius III. (333 v. Chr.) initiierte hellenistische Kolonisation seines Herrschaftsbereichs zog auch viele Juden als Siedler in die von ihm gegründeten Städte im Kernland Ägyptens, insbesondere nach Alexandria. Dabei wurden Privilegien, die ihnen als Religionsgemeinschaft in Judäa zustanden, auch auf die jüdischen Diasporagemeinden übertragen. Seit dem dritten Jahrhundert v. Chr. begünstigte die enge Anbindung Coilesyriens an das Ptolemäerreich den regen kulturellen Austausch zwischen der ägyptischen Diaspora und dem Tempelstaat Jerusalem.
In Alexandria lebte bald nach der Gründung der hellenistischen Metropole im Jahre 331 v. Chr. die größte und einflussreichste jüdische Gemeinschaft außerhalb des Mutterlandes. Gegen Ende der ptolemäischen Epoche waren zwei der fünf Stadtbezirke Alexandrias mehrheitlich von Juden bewohnt; die Zahl der jüdischen Bewohner der Großstadt belief sich auf ca. 300.000 (Jerusalem hatte dagegen gegen Mitte des ersten Jahrhunderts höchstens 100.000 Einwohner). Die im Jahre 115 zerstörte monumentale alexandrinische Hauptsynagoge galt als das nach dem Jerusalemer Tempel größte religiöse Bauwerk des antiken Judentums. Eingebunden in das Verwaltungssystem der ägyptischen Ptolemäer, waren die ägyptischen Juden mit bestimmten Selbstverwaltungsrechten (Versammlungsfreiheit, Regulierung interner Vertragsangelegenheiten und Streitfälle) ausgestattet. Damit waren sie zwar in ihren inneren Angelegenheiten weitgehend autark und gegenüber der unterworfenen einheimischen Bevölkerung sozial privilegiert, jedoch nicht der griechisch-makedonischen städtischen Oberschicht gleichberechtigt. Die Juden im ptolemäischen Alexandria zählten bis auf wenige Ausnahmen nicht zu den Vollbürgern der Stadt.
Die Toragebote galten auch für das hellenisierte alexandrinische Diasporajudentum als verbindliche Lebensnorm. Ihre Erfüllung war Ausdruck des eigenen Erwählungsbewusstseins und zugleich Unterscheidungsmerkmal von der paganen Umwelt. Diese betonte Toraorientierung ermöglichte den ägyptischen Juden die Wahrung der eigenen Gruppenidentität trotz aller Akkulturation im Alltag, trotz der latenten Aggression seitens der minderprivilegierten einheimischen Bevölkerung und trotz des latenten Assimilationsdrucks und der Konformitätserwartungen der hellenistischen Eliten. Mit der »Septuaginta« (»Siebzig«), der angeblich von siebzig bzw. zweiundsiebzig jüdischen Gelehrten auf der Alexandria vorgelagerten Insel Pharos verfertigten Übersetzung der Tora ins Griechische, der Alltags- und Verkehrssprache des alexandrinischen Diasporajudentums, wurde die Aufwertung der identitätstiftenden schriftlichen Basis seiner Selbstverwaltung und der Bewusstwerdung des kollektiven Selbstbildes in seinem Verhältnis nach außen entscheidend vorangetrieben.
Mit der römischen Eroberung Ägyptens im Jahre 30 v. Chr. wurde Alexandria zur zweitgrößten Stadt im Imperium Romanum. Die von den Römern angestrebte Verständigung mit der griechisch-makedonischen Oberschicht Ägyptens brachte für das ägyptische Judentum eine Verschlechterung seiner rechtlichen und politischen Situation mit sich. Garant der Sicherheit des jüdischen Politeumas war nun allein die römische Ordnungsmacht, die ihrerseits den griechischen Bürgern wichtige Privilegien wie die Aufstellung eines eigenen Stadtrates versagte. In den folgenden Jahrzehnten nahmen die Spannungen zwischen Teilen des hellenistischen Polisbürgertums und dem jüdischen Ethnos immer mehr zu.
Die strittige Frage nach der gesellschaftlichen Position des ägyptischen Judentums ist der wesentliche Grund für die blutigen antijüdischen Tumulte in Alexandria im Jahre 38. Flaccus, der römische Statthalter von Ägypten, ging auf die Forderungen der Judenfeinde ein, sprach allen Juden Alexandrias das Bürgerrecht ab und erklärte sie fortan zu Fremden und Ausländern.