Man schien wirklich in einer Zeit des Umsturzes zu leben. Trotzdem Ofen und Sonne längst für ihn wirkten, schlief Herr Spreemann bis in den Mittag hinein. Das war in seinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen. Mamsell Schmidt hatte sich schon Sorgen gemacht, und als er das Frühstückszimmer betrat, begrüßte sie ihn wie einen, der von weither zurückkommt. Sie berichtete sofort, daß das Firmenschild schief hinge, aber keineswegs zerbrochen sei. So beschloß Herr Spreemann, erst eine belebende Tasse Kaffee zu trinken, ehe er den Laden öffnete. Mamsell Lieschen bestärkte ihn in diesem Entschluß, denn die Straßen waren immer noch leer und still. Selten, daß ein eiliger Schritt vorüberklappte. Vor einigen Augenblicken war allerdings die Zeitung gekommen.
Herr Spreemann öffnete sie, und was er da las, ließ seinen Kaffee kalt werden. Eine lange Reihe von Toten war aufgezählt. Und auch der Name des kleinen Herrn Hirschhorn war dabei. Er hatte, bald nach seinem Davonstürzen, die Freiheit und Gleichheit gewonnen, die allen Menschen gewiß ist.
Mit Rührung besann sich Herr Spreemann, daß ihn der kleine, geschickte Mann bis auf den gestrigen Unfall kein einziges Mal geschnitten. Und daß er niemals mehr als vier Groschen für alle zehn Zehen genommen hatte. Auch Mamsell Lieschen schluchzte und vergaß vollständig, daß sie ihn nicht hatte leiden mögen.
»Wenn ich denke, daß er gestern noch lebendig in meiner Küche stand,« sagte sie und putzte sich wieder heftig die Nase.
Nur gut, daß von dem Lehrling und dem »jungen Manne« nichts in der Zeitung zu finden war.
Es war ein heller, klarer Tag. Man spürte es durch die geschlossenen Fenster, daß es zum Frühling ging. Während sich Herr Spreemann, gedankenerfüllt, die Pfeife stopfte, eilte Mamsell Schmidt zum Laubfrosch, um zu sehen, was er zu diesem Wetter sagte. Erschreckt prallte sie zurück. Er lag tot auf dem Boden seines Glashauses. Ob ihn die Aufregung getötet oder die einzige Fliege nicht genug Nahrung gewesen, war nun nicht mehr zu enträtseln. Von Grauen und Ekel gepackt, spähten Herr Spreemann und Mamsell Lieschen durch das Glas. Er lag auf dem grünen Rücken und zeigte einen gelben Bauch. So war er also nur auf einer Seite so hübsch grün gewesen? Auch die Natur lackierte also nur die obere, dem Käufer zugewandte Seite? Das gab beiden eine gewisse Beruhigung. Es tut immer wohl, sich mit der Schöpfung im Einverständnis zu wissen . . .
Milde und bewegt griff Spreemann zum Schlüsselbund und verließ die Wohnung, um endlich seinen Laden zu öffnen. Als er noch das Firmenschild musterte und mit Freude feststellte, daß ein wenig Tischlerleim hier alles kurieren könne, bogen zögernde Schritte um die Ecke. Und ehe Herr Spreemann sich noch selbst bemühen konnte, hoben sein Lehrling und sein »junger Mann« Eisenstange und Holzplanke von der Ladentür.
Der Lehrling hinkte, und der »junge Mann« trug einen Arm in der Binde. Statt der Kokarden hatten sie wieder ihre höflichen Mienen aufgesteckt. Aber die Kokarden waren noch da. Sie lagen in der Tasche, bereit, beim ersten Anlaß wieder hervorgeholt zu werden. Nur mußte man auch inzwischen leben und essen.
Die gegenseitige Begrüßung fiel etwas gezwungen aus. Der Lehrling begann sofort, alte Bindfäden aufzuknoten, und der »junge Mann« beeilte sich, mit dem gesunden Arm einen neuen Staubpuschel in Bewegung zu setzen.
Aber Herr Spreemann war sich schon vorher klar geworden, Milde walten zu lassen. Leute zu finden, die gestern nicht dabei gewesen waren, wäre gewiß nicht leicht. Ein Wechsel aus diesem Grunde hätte also keinen Sinn gehabt. Dagegen konnte es den einfachen Kunden gegenüber, vielleicht auch sogar den Besseren, beinahe als Empfehlung gelten, daß man sein Personal an der großen Gefühlsaufwallung hatte teilnehmen lassen.
So sagte er nur: »Vorüber ist vorüber« und begann im Lagerraum weiter zu arbeiten, wo er gestern aufgehört hatte. Mochten sich seine guten Mitbürger auch noch so wild gebärden, die Sommersäson wird trotzdem unbeirrt heranrücken. Man würde tüchtig schwitzen müssen, hätte Klaus Spreemann nicht wie stets auf seinem Posten gestanden und für sie alle vorausgesorgt. Reich an innerer Freude, ließ er den gespitzten Bleistift über die Etiketten spazieren.
Wenn sich nicht jeder von uns viel zu wichtig nähme, könnte die Welt nicht weiter bestehen . . .
Auch am Nachmittag war Spreemann in eifriger Tätigkeit, als die Ladentür heftig aufgerissen wurde. Er wollte schon seine Verbeugung machen, als er erkannte, daß es seine Tante Karoline war, die hereingestürmt kam.
»Gottlob, da bin ich,« sagte sie. Worauf Klaus einstweilen noch nichts erwiderte.
»Bist du vielleicht auch gestern zu Biere gewesen?« fragte sie nun.
Sie sah auf Spreemanns verbundenen Fuß, der im Filzschuh steckte, und bemerkte ebenso rasch, daß auch der Lehrling wie der »junge Mann« nicht ganz intakt waren.
»Ihr wart wohl alle dabei?« schrie sie aus. »Ist das eine Welt, ist das eine Welt, ich weiß nicht, wo mir der Kopf sitzt. Mein Mariechen . . .«
Klaus unterbrach sie, weil er nicht gern Unangenehmes hörte, und sagte:
»Ich habe die Nacht friedlich mit Mamsell Schmidt verbracht.«
Tante Karoline, die sich nicht hatte unterbrechen lassen wollen und gleichzeitig geschrien hatte, daß Mariechen, dieses sanfte, immer gehorsame Kind, auf den Barrikaden gestanden habe, brach ab, als hätte ihr jemand die Kehle durchschnitten.
»Wir waren bis zum Morgengrauen in meinem Schlafzimmer,« erzählte Klaus arglos weiter, mit der bescheidenen Ruhe eines Menschen, der die Wahrheit spricht.
Der Lehrling knotete Bindfaden, und der »junge Mann« puschelte . . .
Erst als Klaus wieder viele ruhige Pfeifenzüge getan, quoll aus Karolines Mund die Frage, ob er verrückt sei oder sie.
Die Rückwirkungen der schlaflosen Nacht mit ihren verschiedenen Schrecken überstiegen alle Vorsicht für Zukunft und Hoffnungen. Außerdem hatten Mariechen und der Herr Sekretär einen verwundeten Russen von den Barrikaden heimgebracht, der sehr reich war und den man gesund pflegen würde.
Darum ließ sie alle Beherrschung zum Teufel fahren und fragte noch einmal, ob Klaus oder sie den Verstand verloren habe.
Aber ehe Klaus noch sein Gutachten abgeben konnte, klingelte die Ladentür, und Spreemanns andere Tante, Madame Ziehlke, kam herein. Im Pelzschal und großem Skunksmuff, erkundigte sie sich, wie ihrem Neffen der gestrige Schreckenstag bekommen sei. Auf ihrem runden Gesicht, das einem reifen Apfel glich. der schon ein wenig zu schrumpeln begann, sah man keine Spuren des ausgestandenen Schreckens. Mit breiter Neugierde wandte es sich jetzt der Tante Karoline zu.
»Ich hörte, daß dein Mariechen – aber das ist doch wohl nicht möglich . . .«
Tante Karoline wurde rot vor Ärger. Leugnen konnte sie die schon stadtbekannte Tatsache nicht, aber beschönigen. Das ist das Recht der Mutter. So sagte sie schnell und mit erhobenem Kopf:
»Mariechen begleitete nur ihren heimlichen Bräutigam.«
Sie dachte bei diesen Worten, die ihr selbst überraschend kamen, schnell zu dem jungen Russen hin. Er war noch bewußtlos, aber er würde es wohl nicht ewig bleiben.
»So, so, wieder einmal eine Aussicht, das ist ja nett,« antwortete Madame Ziehlke, die Hände tief in dem großen Muff. Sie war durch diese Neuigkeit nicht erschüttert; denn Karoline machte diese geheimnisvollen Anspielungen stets, wenn sie einen neuen Mieter bekommen hatte.
Karoline lenkte auch selbst das Gespräch sofort ab, indem sie der pelzverbrämten Madame Ziehlke zuflüsterte, was sie soeben aus Spreemanns eigenem Munde erfahren hatte.
Madame Ziehlke neigte nicht so zur Erregung, wie Karoline. Sie hatte gar keinen Grund dazu. Ihre beiden Töchter waren verheiratet, ihre Schwiegersöhne hatten zusammen eine recht rentable Mühle am Mühlendamm. Brot brauchten die Leute nun mal zu allen Zeiten, und ihr eigener Sohn bekam einmal die wohl renommierte Gerberei und hätte längst um die beste Bürgerstochter freien können. Aber sie hatte auch Enkelkinder. Schließlich war es kein Verbrechen, wenn Spreemanns