Den Weg zum Haus, das in der benachbarten Straße lag, beschloss er durch den Gemüsegarten abzukürzen. Um all dem Bedrückenden aus dem Weg zu gehen, war es außerdem besser, sich dem Haus unbemerkt, über den Hinterhof zu nähern, und sich so allmählich an Verfall und Verwahrlosung zu gewöhnen.
Er bog in den Trampelpfad ein, die Beine rutschten im Dreck auseinander. Sascha fuchtelte mit den Armen und fluchte leise …
Vergeblich wehrte sich Sascha gegen den Schmutz. Auf dem Weg durch den Gemüsegarten rutschte er trotzdem aus, besudelte sich, die letzten Meter bis zur Gartentür schwankte er, es war unvermeidbar, in den schwarzen Matsch zu treten.
»Und du hast auch nicht vergessen, wie der Riegel aufgeht?«, versuchte Sascha sich aufzumuntern, zusammenzureißen. Mühsam zwängte er die Hand in einen Schlitz der Gartentür (als Kind ging das leichter – mit den feinen Pfötchen) und schob den Riegel zur Seite.
»Nicht vergessen«, wisperte Sascha, und spielte sich selbst gekünstelte Freude vor: Ein letztes Mal gab er seiner Stimmung – wie einer Schaukel – einen Schubs, aber da war keine Freude, nichts.
»Nicht vergessen«, wiederholte er nochmals laut. Dieser Satz gehörte schon nirgendwo mehr hin, bezog sich auf nichts, er musste einfach etwas sagen, schloss die Gartentür und bewegte sich über den Hof zwischen den beiden, vom kranken Großvater nicht mehr genutzten Scheunen und der Getreidedarre. Weiter weg befand sich der Stall, in dem die Großmutter schon ein Jahr lang keine Ziege mehr hielt, seit drei Jahren gab es keine Schweine mehr, schon vor zehn Jahren hatte man die Kuh Domanka von dort auf den letzten Weg geführt. Aus dem Stall kamen keine Gerüche von Leben oder Mist, keine zottige Seele trampelte mehr mit den Hufen, niemand schnaufte, keuchte laut oder erschrak vor Saschas Schritten. Es roch nur nach Feuchtigkeit und Schmutz.
Sascha blickte sehnsüchtig auf das Haus: die kleinen Fenster waren dunkel. Weich und vorsichtig auftretend ging er den verfallenden Zaun entlang, neben der ziegelroten Hauswand, die auf der linken Seite dunkel aufragte, und blieb dann, warum auch immer, an der Hausecke stehen – hinter der Ecke befand sich die Haustür. Am Eingang stand eine Bank, Sascha erinnerte sich daran und wusste, dass die Großmutter immer auf der Bank saß, die weichen und müden Hände in den Schoß gelegt[58].
Auf der Straße neben dem Haus stand ein Kind mit einer Gerte. Während es etwas murmelte, peitschte es mit ihr in die Lache und zischte, hüpfte von den Spritzern weg.
Sascha machte noch einen halben Schritt.
Ja, die Großmutter saß auf der Bank – gleichmütig und regungslos, es schien, als würde sie gar nichts sehen. Und aus dem Verhalten des Kindes, seinem Spiel, seiner Stimme war zu schließen, dass es auch nichts sah, sich an die auf der Bank sitzende Großmutter gar nicht erinnerte. Die Großmutter und das Kind befanden sich gleichsam in unterschiedlichen Sphären.
Die Straße war leer, dunkel und voller Dreck, wie alle anderen Straßen des Dorfes. Hinter dem mit wildem Unkraut überwucherten Garten war die nachbarliche Ordnung zu erkennen, dort leuchteten einige Fenster gelb. Die Sonne ging gerade unter, war schon fast verschwunden.
Das Kind fuchtelte mit der Gerte herum und trampelte auf der Stelle.
Die Großmutter blickte, ohne zu blinzeln, über das Kind, über den Garten, über die Bäume hinweg.
Das Dorf ging seinem Ende entgegen und starb aus – das war in allem zu spüren. Umgewühlt verzog es sich, verschwand – wie ein dunkles Stück Eis trieb es still erstarrt davon. Die verlassenen, aus der Erde wachsenden Scheunen entlang der Straße waren mit ihren feuchten nebeneinander verfaulenden Pfosten ganz schwarz geworden. Auf den Scheunendächern wuchs Gras und sogar dünne Bäumchen bogen sich im Wind, die sich da angesiedelt hatten, aber keinen Grund fanden, in den sie ihre Wurzeln treiben konnten – unter ihren schwachen Wurzelchen befanden sich kalte, leerstehende Gebäude; dorthin, zu den zertrümmerten Milchtöpfen und löchrigen Fässern, schlängelten sich Nattern, die schon niemanden mehr störten. Gebüsch trieb aus und wucherte über den Weg.
Inmitten dieses langsamen, beinahe vollendeten Zerfalls nahm sich das Kind merkwürdig aus, beschämend, deplatziert.
»Saschenka …«, seufzte die Großmutter, als Sascha, die Zähne zusammenbeißend, um sich nicht umzudrehen und durch den Gemüsegarten zu fliehen, einen Schritt machte, die Tasche zu Boden stellte und der Großmutter die Hände entgegenstreckte.
»Wie bist du denn hergekommen, ha?«, fragte sie. »Mit dem Auto, oder? Alleine?«
Sascha antwortete, er sei allein und mit dem Auto gekommen, und sah dabei in das dunkle runde Gesicht der Großmutter und in ihre tränenden Augen.
»Ich dachte schon, wieso kommt Sankya denn nicht«, sagte sie, und Sascha spürte einen leichten Vorwurf in ihrer Stimme. »Briefe schreibt er keine. Opa stirbt und Sascha wird es nicht einmal erfahren …«
»Stirbt« sprach die Großmutter wie »stüabt« aus und das Wort klang deshalb auch viel hilfloser und endgültiger. In ihm war keine Härte – sondern nur Vergänglichkeit.
Das Kind hob den Blick unabsichtlich zu Sascha, der die Großmutter umarmte und küsste, ihre weichen Schultern an sich drückte. Für das Kind war das vermutlich ebenso sonderbar, als hätte Sascha einen Baum oder die Ecke eines Schuppens umarmt.
Sascha hob seine Tasche auf und stand unentschlossen da. Die Großmutter öffnete die Haustür.
»Dem Opa geht’s ganz schlecht, wer weiß ob er den September noch erlebt … Er steht nicht auf, mag nichts essen, nur Wasser trinkt er«, sagte die Großmutter leise, und verließ den Ort des Geschehens.
Sascha wollte nicht in die Hütte gehen, in der Großvater lag, und folgte der Großmutter in die Küche. Nach guter dörflicher Gewohnheit begann sie sofort zu kochen, ohne Fragen, die würden erst später kommen.
In der Küche brannte eine schwache Lampe. Alles war voller Fliegen und als die Großmutter eintrat, flogen einige Fliegen lautlos auf. Nach ein paar Runden landeten sie wieder ruhig, waren satt und faul.
Die Großmutter sprach leise über ihre Söhne. Sie hatte drei Söhne gehabt, Saschas Vater und zwei seiner Onkel, von denen einer Saschas Taufpate war. Alle waren gestorben.
Als erster war der jüngste, Serjoscha, gestorben – er starb mit dem Motorrad, betrunken. Vor zwei Jahren im Sommer kam Saschas Taufpate Nikolaj bei einem Streit im Suff um. Er war der mittlere Sohn. Man begrub ihn neben dem jüngeren Bruder.
Und vor eineinhalb Jahren starb Saschas Vater Wasilij in der Stadt, aus der Sascha gekommen war. Er war der Gebildetste in der Familie, unterrichtete an der Universität, war jedoch auch ein Trinker, am Ende trank er hart und schonungslos[59].
Sascha brachte den Sarg mit dem Vater im Winter … der Weg war ein Alptraum … es war ihm unerträglich, sich an diese Fahrt zu erinnern.
»Ich hab den Hof gekehrt und bin zu Opa gegangen«, erzählte die Großmutter. »Ich fragte: ›Opa, ist es wahr, Wasja ist gestorben? Ich glaube, ich hab das geträumt.‹ ›Ist nicht wahr!‹ sagte er … Wie konnte er nur sterben, Sankya …«
Sascha saß am Tisch, der mit einem alten Tischtuch bedeckt war, und drehte eine Zigarette in den Fingern.
Die Großmutter sagte leise: »Ich setz mich ans Fenster und sitze und sitze. Ich denke, würde mir jemand sagen: Geh tausend Tage barfuß in egal welchem Winter, um deine Buben zu sehen – ich würde sofort gehen. Würde nichts sagen, sie nicht mal berühren, einfach nur sehen, wie sie atmen.«
Die Großmutter sprach ruhig, hinter ihren Worten stand das blanke Entsetzen, jene fast unvorstellbare Einsamkeit, an die Sascha vor Kurzem gedacht hatte, die Einsamkeit, die sich mit ihrer anderen Seite öffnet, die große Einsamkeit, die selbst ihres Echos beraubt ist. Sie antwortete auf nichts, auf keine Stimme.
»Waskja hat so viele Bücher gelesen, steht denn in keinem geschrieben, dass man Wodka so nicht trinken darf?«, fragte die Großmutter Sascha ohne eine Antwort zu erwarten. »Er hat doch unzählige Bücher gelesen, und heißt es dort