»Das Tor … mit Pech …«, äffte Sascha sich selbst nach. »Zu viele Bücher gelesen …«
Niemand weiß, wie das alles gewesen war. Aber all das war gewesen.
Wie kommt das, ha? Wohin sind alle verschwunden?
Hätte es einen Wert, zu wissen, wie die Großeltern ihr Leben gelebt haben? Oder war es für gar nichts nütze?
Sascha ging leise zum Großvater hin.
Die Türrahmen in der Hütte waren niedrig, und Sascha verbeugte sich unwillkürlich vor dem Großvater, der aber nichts sah – er lag mit geschlossenen Augen da. Sascha hörte das heisere, bebende Atmen des Großvaters und blickte einige Momente lang auf seine blasse Stirn mit der dünnen, schwärzlichen Vene.
Der Großvater zuckte mit den tränenden Augen, man konnte die Pupillen unter den Lidern nicht ausmachen.
»Sieht er? Sieht er nicht? Soll ich was sagen?«
»Sankya«, sagte der Großvater leise. »Bist aufgestanden. Hättest noch weiterschlafen …«
Sascha schwieg und sah den Großvater ohne zu blinzeln an. Der Großvater atmete.
Sascha nahm den Hocker und stellte ihn neben Großvaters Bett, vielleicht tat er das auch lauter, als es möglich gewesen wäre – schon die Bewegung, der Lärm verwischten gleichsam den Eindruck der schwermütigen Schmerzhaftigkeit dessen, was hier vor sich ging.
Der Großvater schielte kaum merklich auf den daneben sitzenden Sascha – das Lid zuckte, ein bleicher Fleck der Pupille bewegte sich, und das Lid zuckte von Neuem, drückte eine kleine Träne hervor, die sich sofort in einer Falte verlor.
»Fährst du bald? Bleib doch noch … Bleib, bis ich sterbe … Ich sterbe bald … Begrab mich wenigstens. Die Oma ist doch alleine … Die Weiber werden mich begraben. Es gibt doch keine Männer mehr …«
»In solchen Fällen«, dachte Sascha, »sagt man sicher: ›Was heißt du stirbst bald, Großvater, alles kommt in Ordnung. Du liegst ein bisschen und wirst bald wieder aufstehen.‹« Er schwieg.
»Solange ich lebe, kann ich mich nicht erinnern, dass die Weiber jemanden begraben hätten … Gibt’s in der Stadt noch Männer?«
Sascha lächelte ein wenig.
»Gibt es«, sagte er laut, um wenigstens etwas zu sagen.
»Bei uns sind sie alle ausgestorben. Ich bin der letzte. Alle sind zu meinen Lebzeiten geboren, aufgewachsen, und alle sind sie gestorben. Ich habe sie alle begraben … Die meinigen und die fremden.«
Der Großvater verstummte und lag lange schweigend da.
»Ich esse nichts, und kann trotzdem nicht sterben …«
Er schwieg wieder.
»Erinnerst du dich an meinen silbernen Löffel? Nimm ihn, wenn ich sterbe. Mein Vater hat ihn mir gegeben. Jetzt gehört er dir.«
Sascha erinnerte sich an diesen Löffel – er war schwer, schön. Die Großmutter sagte, dass der Großvater mit diesem Löffel alle seine kleinen Jungs auf die rosa Stirn schlug, wenn sie bei Tisch Unfug trieben[72]. Sascha glaubte das nicht. Mit so einem Löffel kann man töten. Ja, und das passte auch nicht zu Großvaters Charakter. Sascha dachte, dass er nie im Leben gehört hatte, wie Großvater schrie – nie erhob er die Stimme und niemals fluchte er. Seine Unzufriedenheit äußerte er durch Gesten. Einmal kam Sascha mit dem Vater ins Dorf, ungefähr vor fünf Jahren war das. Der Großvater war schon fast achtzig. Onkel Kolja kam noch dazu und sie tranken den ganzen Abend und tranken noch die halbe Nacht weiter. Am Morgen setzten sie sich zum Frühstück, um auszunüchtern. Die Großmutter, die ja hörte, wie schwer der Großvater im Schlaf atmete, entschied, ihn zu schützen und füllte den Söhnen die Gläser mit Selbstgebranntem[73] ganz voll, dem Großvater nur etwas mehr als die Hälfte. In Großvaters Gesicht bewegte sich nicht ein einziger Muskel, mit einer laschen Bewegung schob er mit dem Handrücken der Rechten das Glas weg, nicht abrupt, aber immerhin so, dass es umfiel: Der Selbstgebrannte breitete sich auf dem Tisch aus, der Gestank war schneidend. Dann stand der Großvater auf und schob den Stuhl weg, als wollte er hinausgehen.
»Bleib schon sitzen, du Waldgeist! Bleib sitzen!«, schrie die Großmutter. Augenblicklich wischte sie den Tisch ab, stellte das Glas hin, füllte es bis zum Rand und ging schimpfend hinaus, maßvoll schimpfend, nicht laut und nicht bösartig, seit Langem kannte sie die Grenze, die sie nicht überschreiten durfte, wenn sie ihren Mann tadelte.
Der Großvater setzte sich, trank ruhig aus und die Großmutter versuchte nie mehr, ihm nicht richtig einzuschenken; es erinnerte oder erwähnte auch niemand mehr diesen Vorfall.
Sascha schaute auf den Großvater, dieser war wohl eingeschlafen. Sascha stand vorsichtig auf.
Auf der Straße stand Dunst, nebelgraue Feuchtigkeit, die im Sommer besonders unangenehm war.
Das Dorf gab kein einziges Lebenszeichen von sich.
Neben derselben Pfütze von gestern stand derselbe Junge mit der Gerte in der Hand. Zischend schlug er auf die schmutzige Spiegelung seiner selbst und sprang dabei von der Pfütze weg.
Der Anblick des Kindes hätte vielleicht das Herz zusammengezogen, wäre im Herzen nicht stille Leere gewesen.
»Du stehst schon auf, Sankya, warum bist du denn schon auf«, sagte die Großmutter, die vom Hof kam. »Gehen wir frühstücken.«
Das Rührei mit Speck, Tomaten und Zucchini – unnatürlich hell, wie die Zeichnung eines Kindes – verströmte ein starkes Aroma, bebte und spritzte als wäre es lebendig und voller Freude.
»Interessant, und wenn man die Alten zu zeichnen zwingt – werden ihre Zeichnungen genauso hell sein wie die der Kinder?«, überlegte Sascha.
Der Selbstgebrannte trübte sich ein, das grobe Brot wurde voller Gelassenheit dunkler. Auf einem Tisch ist Brot ist immer das Strengste, es kennt seinen Preis.
Sascha aß alles schnell und sagte, er gehe spazieren. Er bewegte sich vom Haus weg, den Berg hinunter zum Fluss. Er erinnerte sich, wie er als Kind auf demselben Weg ging und die Gänse der Nachbarin traf und lange nicht an ihnen vorbeigehen konnte, da der Gänserich, der widerwärtige Vogel, den Hals streckend und mit den Flügeln schlagend, den Weg blockierte. Sascha sprang weg und drehte sich vor Schreck um und lief, mit hochgezogenen Knien. Dann blieb er in einiger Entfernung lange stehen, von einem dunklen Bein auf das andere tretend, wie ein kleines Pferd. Als jemand die Straße entlangging, setzte sich Sascha und tat, als würde er mit den Steinen spielen. Er schämte sich, dass er sich vor einer Gans fürchtete. Der Mensch ging vorbei, erschreckte die Gänse und sie liefen wild mit den Flügel schlagend und wie blöde schnatternd davon.
Wenn Sascha sich erinnerte, sich an sein Leben erinnerte, dann mochte er auch nur diesen Jungen, den dunkelbeinigen, mit den Schrammen. Dann, als er die blonde Mähne losgeworden war, wurde aus diesem Jungen ein weißhäutiger, buckliger Blödkopf, der dumm lachte und alle anderen Merkmale eines Halbwüchsigen hatte. Sascha erinnerte sich nicht an seine Zeit als Halbwüchsiger, er vermied es, sich daran zu erinnern. Fahrig, raufsüchtig, unangenehm – wer möchte sich schon daran erinnern.
Jetzt gab es keine Gänseriche mehr.
Die Stege über das Flüsschen verbogen sich, brachen ein.
»Geht denn etwa niemand mehr ans andere Ufer hinüber?«, dachte Sascha und ertappte sich dabei, dass Großmutters »denn etwa«[74] in seine Sprache eingegangen war. Aber vermutlich verwendete er diesen Ausdruck nur, weil er mit seinem eingebildeten Dörflertum spielte, das sich, wenn es je existiert haben sollte, schon lange in Nichts aufgelöst hatte. Selbst »denn etwa« konnte er nicht gelassen aussprechen, ohne sich bei einem Selbstbetrug zu ertappen.
Sascha ging das Ufer entlang zum weiter entfernten Strand. Manchmal fand er am Ufer alte Boote, die mit Ketten an Bäumen festgemacht