Dass Besletow äußerst liberale Ansichten vertrat, erfuhr Sascha erst viel später. Und er war sich bis heute nicht im Klaren darüber[89], was er davon halten sollte, dass der Vater niemals über »Umbrüche« und »Schicksale« gestritten hatte. Wie ließ sich das erklären? Doch nicht mit Gleichmut …
Besletow war der einzige von Vaters Freunden und Bekannten, der mit ins Dorf zum Begräbnis gefahren war.
Während des Begräbnisses gingen Sascha und Besletow zum »Du« über[90], sahen sich dann aber einige Jahre nicht, und in dieser Zeit verlor sich die kurzfristige Nähe wieder. Ihre Bekanntschaft wurde erneuert, als sich ganz unverhofft herausstellte, dass Saschas Freundin bei Aleksej Konstantinowitsch Philosophie studierte. Sie fragte Sascha, als sie sich einmal nach dem Unterricht vor dem Hörsaal trafen:
»Kennst Du eigentlich Aleksej Konstantinowitsch, der bei uns Philosophie unterrichtet?«
Im selben Moment gab Sascha Besletow die Hand und beschloss, wegen dessen zupackendem Händedruck sowie der lehrerhaften Körperhaltung zu vergessen, dass sie per Du waren.
»Ja, Aleksej Konstantinowitsch und ich … wir sind miteinander bekannt.«
Einige Male begegneten Sascha und Besletow einander auf dem Gang der Universität und tauschten im Vorbeigehen einen Händedruck aus, bis Sascha sich mit seiner Freundin aus einem banalen und längst vergessenen Grund zerstritt und Besletow abermals für eine Weile aus den Augen verlor.
Vor kaum mehr als einem Monat gab es eine lokale Veranstaltung des »Sojus« und Sascha traf unmittelbar nach dem Ende der wie immer lautstarken und mit Provokationen gespickten Aktion mit Besletow zusammen.
»Ich habe beobachtet, wie ihr dort … herumschreit«, sagte Besletow sanftmütig und mit professoralem Lächeln.
Sascha empfand wegen seiner sozusagen politischen Einstellungen schon lange keine Hemmungen mehr. (In Wirklichkeit ging es ihm niemals nur um Politik, sondern um das, was vielleicht den einzigen Sinn seines Lebens ausmachte.) Dieses Mal verspürte er jedoch ein leises Gefühl von Peinlichkeit. Vielleicht wegen seiner rauen Kehle, die gerade erst gebrüllt hatte: »Präsident, hau ab!« Vielleicht auch wegen seiner tiefsitzenden Verbitterung, die ihm immer noch ins Gesicht geschrieben stand. Er war nur zu vertraut mit der groben Miliz, die sie unverständlicherweise dieses Mal nicht hochgenommen hatte: Normalerweise schleppten sie die »Sojusniki« am Ende einer Demonstration auf die Wache, wo diese zum hundertsten Mal fotografiert und ihnen »die Finger abgenommen«[91] wurden.
Kurz gesagt, Sascha gelang es nicht, sich umzustellen, und er sah Besletow mit einem mühsam erzwungenen sonderbaren Lächeln an.
Dieser brach plötzlich in ein gutes, weil jugendliches und ehrliches Lachen aus und sagte: »Ihr werdet’s schwer haben.«
Besletow hatte Sascha eingeladen, zur Uni zu kommen, um miteinander zu sprechen (»Kannst auch Freunde mitbringen …«), und er hatte das so getan, dass Sascha tatsächlich kommen wollte.
Es gab neben der gütigen Aufrichtigkeit von Besletow noch andere Gründe für einen Besuch.
Saschas Vater war ein gebildeter Mensch – fast ein Professor, aber Sascha fühlte sich immer wie ein Straßenköter. Vielleicht, weil er nicht studiert hatte und die richtigen Bücher erst nach der Armee zu lesen begonnen hatte, vor der ihn auch die Mutter, eine im Grunde einfache Frau, nicht hatte bewahren konnte.
Vielleicht fehlte es Sascha an Sicherheit, weil der Vater sich nie mit ihm beschäftigt hatte, er sprach sogar selten mit seinem Sohn. Es war so: Der Vater brauchte den Umgang nicht, und Sascha drängte sich nicht auf, vielleicht war’s auch umgekehrt: Der Vater drängte sich nicht auf, und Sascha brauchte den Kontakt damals nicht.
Aber seit Kurzem zog es Sascha zu Menschen, die die Welt scheinbar besser verstanden – zumindest mithilfe jener gedruckten Quellen, bis zu denen Sascha es nicht geschafft hatte.
Besletow hob die Augen oder genauer – er zog die Brauen hoch.
Mit seinen Allüren erinnerte er immer mehr an einen pathetischen Theaterschauspieler.
»Sascha?«
»Wir sind einfach so gekommen.«
»Ach ja, ich hatte dich eingeladen, ich erinnere mich …«
Sie standen im Gang. Besletow schüttelte allen die Hand, schaute die Ankömmlinge dabei aufmerksam an und lächelte nicht. Er war nicht groß, hatte glatte dunkle Haare und runde Schultern. Früher, konnte sich Sascha erinnern, mühte sich Besletow die ganze Zeit mit seinem Gesicht ab, als wäre er ständig auf der Suche nach der richtigen Emotion und dem genauen Wort. Jetzt war er ruhig, und seine Wangen hingen ein wenig herunter, wodurch der Gesichtsausdruck leicht angewidert war.
»Wisst ihr, ich schließe das Institut gerade«, sagte er. »Hier gegenüber gibt’s ein billiges und ruhiges Café. Vielleicht setzen wir uns dorthin? Auf eine Tasse Tee?«
»Gehen wir«, stimmte Sascha zu, obwohl er nicht mehr sehr viel Geld hatte.
»Ich schaue noch im Dekanat vorbei und … komme gleich …«, versprach Besletow. Die Jungs gingen wieder an dem strengen Wärter vorbei und waren zwei Minuten später im Café. Es war halbleer, und die Musik spielte tatsächlich leise. In der Ecke flimmerte ein Fernsehgerät. Auf dem Bildschirm waren Männer in Helmen und auf Motorrädern zu sehen. Sie fuhren im Kreis, fielen oft hin und wirbelten in den Kurven Dreck auf.
Die Karte wurde gebracht. Sascha hob das erste Blatt des in Leder gebundenen Heftes mit dem Zeigefinger an und wusste schon, dass er nichts bestellen würde.
»Ich habe noch Geld«, sagte Rogow. Niemand hatte ihn danach gefragt, aber die Frage hing in der Luft. Natürlich hob sich bei allen die Stimmung.
»Ein Bier?«, fragte Rogow.
»Ich nicht«, sagte Negativ.
»Tee?«
»Ich will nichts.« Negativ verstand es, so abzulehnen, dass niemand mehr etwas vorschlug.
Alle begannen zu rauchen und sahen sich um.
Besletow kam bald, streng, in einer kurzen Jacke, mit einer Aktentasche.
Als er die Jacke auszog, bemerkte Sascha Besletows beginnenden Bauchansatz.
Er setzte sich schweigend, stellte die Aktentasche neben den Stuhl, nahm seine Zigaretten raus.
»Er hat keine Bartstoppeln«, fiel Sascha plötzlich auf – »ein weißes Gesicht. Ein kluges und vermutlich schönes Gesicht. … Und wie er die Brauen zusammenzog …«
Ohne dass man ihr Kommen gehört hätte, stand die Kellnerin vor ihnen, Besletow bestellte Kaffee.
Die Pause zog sich in die Länge.
Sascha schwieg absichtlich – ihm gefiel das ganze Treffen schon nicht, als sie noch in der Universität waren.
»Was schaut er so?«, dachte er und sah in Besletows Gesicht. »Hab ich etwa Geld von ihm geliehen?«
»Macht ihr immer noch Radau?«, fragte Besletow, der seine Zigarette angezündet hatte und Saschas eindringlichen Blick spürte.
»Was bleibt sonst übrig?«, antwortete Sascha rhetorisch. Er hatte sofort verstanden, dass es um die Moskauer Krawalle ging.
Besletow zog kräftig an der Zigarette und dankte – den Rauch dabei anhaltend – mit leicht gepresster Stimme der Kellnerin für den Kaffee.
»Denkt ihr, dass das, was ihr da angefangen habt, gut ist? Richtig?«
»Gut und richtig«, antwortete Sascha. Besletow zuckte mit den Schultern.
»Und welchen Sinn hat das?«
»Das ist eine sehr lange Frage.«
»Es ist eine geradezu kurze Frage … Gut, ihr verlangt: ›Gebt uns eine nationale Idee…‹«
»Wie