Die Straße selbst war ebenso ein Wunderwerk. Ihre Füße blieben beinahe im Schlamm stecken, da der Boden von all den Füßen und Hufen aufgeweicht wurde. Dies für sich gesehen war erträglich, doch überall in die Erde hineingemischt war Kot, von den Rudeln wilder Hunde oder, aus den Fenstern hinausgeschüttet, von Menschen. Tatsächlich öffneten sich, während sie gingen, gelegentlich Fensterläden und Eimer erschienen, aus denen alte Frauen den Haushaltsmist ins Freie leerten. Es roch weitaus schlimmer als in Venedig oder Florenz oder Paris. Sie musste von Zeit zu Zeit beinahe würgen und wünschte, sie hätte einen dieser kleinen Parfüm-Beutel, um ihn sich an die Nase zu halten. Zum Glück trug sie zumindest die praktischen Trainingsschuhe, die Aiden ihr in Versailles gegeben hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, jemals mit Stöckeln über diese Straße zu gehen.
Und doch, in diese seltsame Mixtur aus Ackerland und Herrenhäusern hineingemischt gab es auch die gelegentliche architektonische Errungenschaft. Staunend sah Caitlin hier und da einige Gebäude, die sie sogar aus Bildern aus dem 21. Jahrhundert wiedererkannte, reich verzierte Kirchen und gelegentlich ein Schloss.
Die Straße endete abrupt in einem großen, gewölbten Torbogen, mehrere Wachen in Uniform davor postiert, wachsam mit Lanzen bewaffnet. Das Tor stand jedoch offen, und sie gingen hindurch.
Auf einem in Stein gravierten Schild stand „Whitehall Palace“, und sie gingen weiter durch seinen langen, schmalen Innenhof, dann durch einen weiteren Torbogen auf der anderen Seite wieder hinaus und zurück auf die Hauptstraße. Bald kamen sie an eine kreisrunde Kreuzung, die mit „Charing Cross“ beschildert war, mit einem großen senkrechten Denkmal in seiner Mitte. Die Straße gabelte sich nach links und rechts.
„Wie weiter?“, fragte sie.
Caleb schien genauso ratlos wie sie. Schließlich sagte er: „Mein Instinkt sagt mir, nahe am Fluss zu bleiben und nach rechts abzubiegen.“
Sie schloss die Augen und versuchte, es selbst zu spüren. „Ich stimme dir zu“, sagte sie, dann fügte sie hinzu: „Hast du irgendeine Ahnung, wonach genau wir suchen?“
Er schüttelte den Kopf. „Du weißt so viel wie ich.“
Sie blickte auf ihren Ring hinunter und las das Rätsel noch einmal laut vor.
Über die Brücke, hinter dem Bären
Der Wind zur Sonne, umgehen wir London.
Dabei klingelte gar nichts bei ihr, und bei Caleb klingelte es anscheinend auch nicht.
„Nun, es erwähnt London“, sagte sie, „also habe ich das Gefühl, dass wir auf der richtigen Spur sind. Mein Instinkt sagt mir, dass wir weitergehen müssen, tiefer in die Stadt hinein, und dass wir es wissen werden, wenn wir es sehen.“
Er stimmte zu, und sie nahm seine Hand, und sie bogen nach rechts ab, parallel zum Fluss weiterziehend, einem Schild folgend, auf dem „The Strande“ stand.
Während sie auf dieser neuen Straße ihren Weg fortsetzten, bemerkte sie, dass die Gegend zunehmend dichter besiedelt war, mit mehr Häusern, die enger aneinander standen, auf beiden Straßenseiten. Sie hatte das Gefühl, dass sie dem Stadtzentrum näher kamen. Auf den Straßen war auch mehr los. Das Wetter war perfekt—es schien ihr wie ein Tag im Frühherbst, und die Sonne schien beständig. Sie fragte sich kurz, welcher Monat es war. Es erstaunte sie, wie sehr sie ihr Zeitgefühl verloren hatte.
Zumindest war es nicht zu heiß. Doch als die Menschenmenge auf der Straße immer dichter wurde, fühlte sie sich langsam eingeengt. Sie kamen definitiv dem Zentrum einer riesigen Metropole näher, selbst wenn sie nicht die Ausgefeiltheit der modernen Zeit besaß. Sie war überrascht: sie hatte sich immer vorgestellt, dass die alten Zeiten weniger Menschen in sich hatten, weniger überfüllt waren. Doch wenn überhaupt, dann war das Gegenteil der Fall: als die Straßen immer voller wurden, konnte sie nicht glauben, wie dicht gedrängt es war. Es erinnerte sie an New York City im 21. Jahrhundert. Die Leute drängelten und rempelten und drehten sich nicht einmal um, um sich zu entschuldigen. Außerdem stanken sie.
Zum Straßenbild beitragend standen an jeder Ecke Straßenhändler, die aggressiv versuchten, ihre Waren unters Volk zu bringen. In alle Richtungen riefen die Leute mit eigenartigem britischem Akzent umher.
Und wo die Stimmen der Händler verhallten, dominierten andere die Luft: die der Prediger. Überall sah Caitlin provisorische Podeste, Bühnen, Seifenkisten, Kanzeln, auf denen Prediger standen und ihre Predigten an die Masse richteten, schreiend, um gehört zu werden.
„Jesus sagt BEREUET!“, schrie ein Pfarrer, der mit ulkigem Zylinderhut und strengem Blick dastand und seinen Blick über die Menge schweifen ließ. „Ich sage dass ALLE THEATER geschlossen werden müssen! Jeglicher Müßiggang muss VERBOTEN werden! Kehrt zurück in eure Gebetshäuser!“
Es erinnerte Caitlin an die Leute, die in New York City an den Straßenecken predigten. Auf manche Weise hatte sich nichts geändert.
Sie kamen an einen weiteren Torbogen mitten auf der Straße, mit einem Schild, auf dem „Temple Barre, City Gate“ stand. Caitlin war erstaunt, dass Städte wirklich Stadttore hatten. Das große, imposante Tor stand offen, damit die Leute direkt hindurch konnten, und Caitlin fragte sich, ob es bei Nacht geschlossen wurde. Auf beiden Seiten standen weitere Wachmänner.
Doch dieses Tor war anders: es schien ebenso ein Versammlungsort zu sein. Eine große Menschenmenge drängte sich darum, und hoch oben auf einer kleinen Plattform stand ein Wachmann mit einer Peitsche. Caitlin blickte hoch und sah erstaunt, dass ein Mann, in Ketten und kaum bekleidet, an einen Prügelpfahl gebunden war. Der Wachmann holte aus und peitschte ihn wieder und wieder, und die versammelte Menge machte ooh und aah bei dem Anblick.
Caitlin betrachtete die Gesichter in der Menge und konnte nicht glauben, wie gleichgültig sie schienen, als wäre dies eine normale, alltägliche Gegebenheit, als handelte es sich um eine beliebte Unterhaltungsform. Sie spürte Zorn in sich hochsteigen über die Barbarei dieser Gesellschaft, und sie stupste Caleb an. Auch er war von der Szene gefesselt, und sie nahm seine Hand und eilte mit ihm durch das Tor, und zwang sich, nicht hinzusehen. Sie fürchtete, dass, wenn sie zu lange verweilte, sie sich nicht davor zurückhalten konnte, die Wachen anzugreifen.
„Dieser Ort ist barbarisch“, sagte sie, als sie Abstand vor dem gräulichen Anblick gewonnen hatten und die Laute der Peitsche schwächer wurden.
„Furchtbar“, stimmte er zu.
Während sie weiterzogen, versuchte sie, die Bilder aus ihrem Kopf zu bannen. Sie zwang sich dazu, ihre Aufmerksamkeit anderswohin zu lenken. Sie blickte auf ein Straßenschild hoch und sah, dass der Name der Straße, auf der sie gingen, sich zu „Fleet Street“geändert hatte. Während sie unterwegs waren, wurden die Straßen nur noch belebter, dichter, und die Gebäude und zahlreichen Reihen von Holzhäusern standen noch enger aneinander. Diese Straße war auch von diversen Läden gesäumt. Auf einem Schild stand: „Rasur für einen Penny.“ Vor einem anderen Laden baumelte das Schild eines Schmiedes, und ein Hufeisen hing davor herunter. Auf einem weiteren Schild stand in großen Buchstaben „Pferdesattel“.
„Brauchen Sie ein neues Hufeisen, Miss?“, fragte ein Ladenbesitzer Caitlin im Vorbeigehen.
Sie war überrumpelt. „Ähm... nein danke“, sagte sie.
„Was ist mit Ihnen, Sir?“, bestand der Mann. „Brauchen Sie eine Rasur? Ich habe die saubersten Klingen in der Fleet Street.“
Caleb lächelte den Mann an. „Danke, aber ich brauche nichts.“