Clink Street, dachte Caitlin. Knaststraße. Ein treffender Name.
Es war ein riesiges, weitläufiges Gebäude, und als sie vorbeikamen, sah Caitlin Hände und Gesichter zwischen den Gitterstäben hervortreten, sie beobachten, während sie vorbeizog. Hunderte Gefangene waren hineingepfercht, gafften zu ihr hinaus, riefen ihr derb zu, während sie vorbeizogen.
Ruth knurrte zurück, und Caleb kam näher.
Sie gingen weiter und passierten eine Straße mit einem Schild, auf dem „Dead Man‘s Place“ stand, der Platz des toten Mannes. Sie blickte nach rechts und sah ein weiteres Gerüst, mit einer weiteren Hinrichtung, die gerade vorbereitet wurde. Ein Gefangener stand zitternd auf einer Plattform, mit verbundenen Augen, eine Schlinge um den Hals.
Caitlin war so abgelenkt, dass sie beinahe den Jungen aus den Augen verlor, als sie spürte, wie Caleb ihre Hand packte und sie weiter die Clink Street hinunterführte.
Als sie weiterzogen, hörte Caitlin plötzlich ein fernes Rufen und dann ein Brüllen. Sie sah den Jungen in der Ferne um eine Ecke biegen und hörte einen weiteren Ruf aufsteigen. Dann spürte sie überrascht die Erde unter sich beben. Sie hatte so etwas seit dem römischen Kolosseum nicht mehr gespürt. Sie erkannte, dass es um die Ecke irgendeine Art riesiges Stadion geben musste.
Als sie um die Ecke bogen, war sie von dem Anblick vor sich beeindruckt. Es war ein riesiges, kreisrundes Bauwerk, das wie eine Miniatur-Ausgabe des Kolosseum wirkte. Es war mehrere Stockwerke hoch gebaut und vor Einblicken geschützt, doch in alle Richtungen gab es gewölbte Tore, die hineinführten. Sie konnte die Rufe nun lauter hören—sie kamen hörbar von hinter diesen Mauern.
Vor dem Bauwerk tummelten sich hunderte Leute, einige der heruntergekommensten Gestalten, die ihr je unter die Augen gekommen waren. Manche waren kaum bekleidet, vielen hingen riesige Bäuche heraus, sie waren unrasiert und ungewaschen. Wilde Hunde streunten unter ihnen herum, und Ruth knurrte mit gesträubtem Fell, sichtlich nervös.
Händler schoben Karren durch den Schlamm; viele von ihnen verkauften krugweise Gin. Dem Anschein der Menge nach zu schließen, machten sie damit gutes Geschäft. Die Zuschauer rempelten grob gegeneinander, und die meisten von ihnen sahen betrunken aus. Ein weiteres Brüllen stieg auf, und Caitlin blickte hoch und sah das Schild, das über den Stadion hing: „Bärenhetze.“
Ihr wurde schlecht. War diese Gesellschaft wirklich so grausam?
Das kleine Stadion schien Teil einer Anlage zu sein. In der Ferne stand ein weiteres kleines Stadion, mit einem riesigen Schild, auf dem „Stierhetze“ stand. Und seitlich davon, etwas von den anderen beiden abgelegen, stand ein anderes große rundes Bauwerk—wobei dieses sich von den anderen beiden unterschied, stilvoller wirkte.
„Kommt und seht das neue Will Shakespeare-Stück im brandneuen Globe Theatre!“, rief ein vorbeilaufender Junge aus, der einen Stapel Flugblätter trug. Er kam direkt auf Caitlin zu und schob ihr ein Flugblatt in die Hand. Sie blickte hinunter, und auf ihm stand: „Das neue Stück von William Shakespeare: Die Tragödie von Romeo und Julia.“
„Werden Sie hinkommen, Miss?“, fragte der Junge. „Es ist ein neues Stück, und es wird erstmals in diesem brandneuen Theater uraufgeführt: dem Globe.“
Caitlin blickte auf das Flugblatt hinunter und verspürte einen Rausch von Aufregung. Konnte es wirklich wahr sein? Geschah dies wirklich?
„Wo ist es?“, fragte sie.
Der Junge prustete. Er drehte sich herum und deutete. „Na da drüben, Miss.“
Caitlin sah seiner Hand nach und sah ein rundes Bauwerk in der Ferne, mit weißem Stuck an den Mauern und Holzrahmen im Tudor-Stil. Das Globe. Shakespeares Globe. Es war unglaublich. Sie war tatsächlich hier.
Davor tummelten sich tausende Menschen, strömten von allen Richtungen hinein. Und die Menge sah genauso derb aus wie die Menge, die zum Stier- und Bärenhetzen ging. Das überraschte sie. Sie hatte sich das Publikum von Shakespeare-Theater zivilisierter vorgestellt, kultivierter. Sie hatte es nie als Massenunterhaltung betrachtet—noch dazu für die ruppigste aller Massen. Es schien nicht viel anders zu sein als die Bärenhetze.
Ja, sie würde liebend gerne ein neues Shakespeare-Stück sehen, liebend gerne das Globe besuchen. Doch sie fühlte sich fest entschlossen, zuerst ihre Mission zu erfüllen, das Rätsel zu lösen.
Ein neues Brüllen kam aus dem Bärenhetze-Stadion hervor, und sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder darauf. Sie fragte sich, ob die Antwort auf das Rätsel genau hinter seinen Mauern lag.
Sie wandte sich an Caleb.
„Was denkst du?“, fragte sie. „Sollen wir es uns einmal ansehen?“
Caleb wirkte zögerlich.
„Das Rätsel erwähnte eine Brücke“, sagte er, „und einen Bären. Aber meine Sinne sagen mir etwas anderes. Ich bin nicht ganz sicher —“
Plötzlich knurrte Ruth und sprintete dann davon.
„Ruth!“, rief Caitlin.
Sie war weg. Sie drehte sich nicht einmal um, um zu gehorchen, und sie rannte so schnell sie konnte.
Caitlin war schockiert. Sie hatte dieses Benehmen noch nie an ihr gesehen, selbst in Zeiten äußerster Gefahr. Was konnte sie nur so angezogen haben? Sie hatte noch nie erlebt, dass Ruth nicht gehorchte.
Caitlin und Caleb fingen gleichzeitig an, ihr nachzulaufen.
Doch selbst mit Vampirgeschwindigkeit kamen sie durch den Schlamm langsam voran, und Ruth war viel schneller als sie. Sie sahen zu, wie sie sich durch die Menge bahnte, während sie sich durchrempeln mussten, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Caitlin konnte sehen, wie Ruth in der Ferne um eine Ecke bog und in eine enge Gasse rannte. Sie wurde schneller, wie auch Caleb, schob dabei einen großen Mann aus dem Weg und bog hinter Ruth in die Gasse ein.
Was um alles in der Welt konnte sie wollen?, fragte sich Caitlin. Sie fragte sich, ob es ein streunender Hund war, oder ob sie vielleicht einfach nur einen Punkt erreicht hatte, wo der Hunger zu groß war und sie Nahrung nachjagte. Sie war immerhin ein Wolf. Caitlin durfte das nicht vergessen. Sie hätte stärker nach Nahrung für sie suchen sollen, und früher.
Doch als Caitlin um die Ecke bog und die Gasse hinunterblickte, wurde ihr mit einem Schreck klar, was los war.
Am Ende der Gasse saß ein kleines Mädchen, vielleicht acht, im Staub, kauerte, weinte, zitterte. Über ihr türmte sich ein großer, bulliger Mann auf, ohne Hemd, sein riesiger Bauch hervorhängend, unrasiert, mit stark behaarter Brust und Schultern. Er blickte grimmig drein, Zahnlücken waren zu sehen, und er holte mit einem Ledergürtel aus und schnalzte ihn dem armen Mädchen auf den Rücken, wieder und wieder.
„Das kommt davon, wenn du nicht gehorchst!“, schrie der Mann mit boshaftem Ton, während er den Gürtel erneut hob.
Caitlin war entsetzt, und ohne nachzudenken machte sie sich bereit, in Aktion zu treten.
Aber Ruth kam ihr zuvor. Ruth hatte einen Vorsprung, und als der Mann seinen Arm hob, rannte Ruth vor und sprang in die Luft, mit weit geöffnetem Maul.
Sie schnappte nach dem Unterarm des Mannes und versenkte ihre Zähne vollständig darin. Blut spritzte überall hin, und der Mann kreischte fürchterlich.
Ruth war fuchsteufelswild und ließ sich nicht besänftigen. Sie fauchte und schüttelte ihren Kopf hin und her, riss weiter am Fleisch des Mannes, und ließ nicht locker.
Der Mann schwang Ruth hin und her, was er nur konnte, weil er so groß war und sie noch kein ausgewachsener Wolf. Sie fauchte, und das Geräusch war furchteinflößend genug, dass sich sogar Caitlins Nackenhaare aufstellten.
Doch dieser Mann war sichtlich an Gewalt gewöhnt, und er schwang seine große, bullige Schulter herum und schaffte es, Ruth gegen eine Ziegelmauer