„Normale Prozedur, Ma‘am“, sagte der Beamte schroff.
Sie schaute zu ihm hinüber. Er war neu … und jung. Sie bezweifelte, dass er sich schmieren ließ, aber sie konnte es sich nicht leisten, dass irgendjemand – ob korrupt oder sauber – die Unterhaltung mithörte. Anderson lächelte sie ein wenig an; er wusste, was kam. Dies würde wahrscheinlich unterhaltsam für ihn sein.
Sie stand auf und starrte den Wachmann an, bis er ihren Blick bemerkte und zu ihr herüber schaute.
„Zuerst einmal heißt es nicht Ma’am. Es heißt Detective Locke. Und zweitens interessiert mich eure Prozedur einen Scheiß. Ich will mit diesem Insassen vertraulich sprechen. Wenn Sie dem nicht nachkommen können, dann muss ich mit Ihnen vertraulich sprechen und es wird keine angenehme Unterhaltung werden.“
„Aber…“, stotterte Kiley, während er von einen Fuß auf den anderen trat.
„Aber gar nichts, Officer. Sie haben hier zwei Möglichkeiten. Sie lassen mich mit diesem Insassen allein sprechen, oder wir beide werden unser Gespräch haben. Wofür entscheiden Sie sich?“
„Vielleicht sollte ich meinen Vorgesetzen ho-“.
„Diese Möglichkeit steht nicht auf der Liste, Officer. Wissen Sie was? Ich werde die Entscheidung für Sie treffen. Lassen Sie uns nach draußen gehen, damit wir uns mal in Ruhe unterhalten können. Man hätte denken können, mein Bestreben, einem religiösen, pädophilen Fanatiker das Handwerk zu legen, würde mir für den Rest der Woche das Recht geben, hier zu sein, aber wie es scheint, muss ich jetzt auch noch einen Gefängnis-Officer instruieren. „
Sie griff nach der Türklinke und wollte sie gerade herunterdrücken, als Officer Kiley seine Nerven verlor. Sie war beeindruckt, wie lange er sich gehalten hatte.
„Vergessen Sie’s, Detective“, sagte er eilig. „Ich warte draußen. Aber bitte seien Sie vorsichtig. Dieser Gefangene ist schon mehrfach gewalttätig geworden.“
„Natürlich“, sagte Keri mit honigsüßer Stimme. „Danke für Ihr Entgegenkommen. Ich versuche, es kurz zu machen.“
Als er vor die Tür trat und Keri zu ihrem Stuhl zurückkehrte, war sie von einer Selbstsicherheit und einer Energie erfüllt, die ihr vor nur dreißig Sekunden noch gefehlt hatten.
„Das hat Spaß gemacht“, sagte Anderson sanft.
„Da bin ich mir sicher“, entgegnete Keri. „Sie können darauf wetten, dass ich im Austausch für eine solch qualitativ hochwertige Unterhaltung wertvolle Informationen von Ihnen erwarte.“
„Detective Locke“, sagte Anderson mit gespielter Entrüstung, „Sie beleidigen meine delikaten Empfindungen. Seit Monaten haben wir uns nicht mehr gesehen, und doch ist das erste, das Sie tun, Informationen von mir zu verlangen? Kein ‚Hallo‘? Kein ‚Wie geht es Ihnen‘?“
„Hallo“, sagte Keri. „Ich würde fragen, wie es Ihnen geht, aber es ist offensichtlich, dass es Ihnen nicht besonders gut geht. Sie haben abgenommen. Ihr Haar ist grau geworden. Die Haut um Ihre Augen ist schlaff. Sind Sie krank? Oder belastet etwas Ihr Gewissen?“
„Beides“, gab er zu. „Sehen Sie, die Jungs hier drinnen haben mich in letzter Zeit nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst. Ich gehöre nicht mehr der beliebten Gruppe an. Daher wird sich mein Essen gelegentlich ‚ausgeliehen‘. Ich habe außerdem einen Hauch von Krebs.“
„Das wusste ich nicht“, sagte Keri ehrlich betroffen. All die körperlichen Anzeichen des Verfalls machten jetzt mehr Sinn.
„Woher auch?“, fragte er. „Ich bin damit nicht hausieren gegangen. Vielleicht hätte ich es Ihnen bei meiner Bewährungsanhörung letzten November gesagt, aber Sie waren nicht da. Es hat übrigens nicht geklappt. Nicht Ihr Fehler. Ihr Brief war übrigens sehr nett, vielen Dank.“
Nachdem Anderson ihr geholfen hatte, hatte Keri in seinem Namen einen Brief aufgesetzt. Darin hatte sie ihn nicht verteidigt, jedoch die Art und Weise, wie er der Polizei geholfen hatte, zu seinen Gunsten dargelegt.
„Ich nehme an, Sie waren nicht überrascht, dass Sie nicht auf Bewährung freikommen?“
„Nein“, sagte er, „aber es ist schwer, sich nicht doch Hoffnung zu machen. Es war meine letzte, echte Chance, hier herauszukommen, bevor die Krankheit mich niederstreckt. Ich habe von Spaziergängen am Strand von Zihuatanejo geträumt. Naja, es hat nicht sein sollen. Aber genug des Smalltalks, Detective. Lassen Sie sich uns damit befassen, weshalb Sie wirklich hier sind. Und bedenken Sie, dass die Wände Ohren haben.“
„Okay“, sagte sie, lehnte sich nach vorne und flüsterte, „wissen Sie über morgen Abend Bescheid?“
Anderson nickte. Keri fühlte, wie die Hoffnung in ihr aufstieg.
„Wissen Sie, wo es stattfindet?“
Er schüttelte seinen Kopf.
„Mit dem Wo kann ich Ihnen nicht helfen“, flüsterte er zurück. „Aber vielleicht mit dem Warum.“
„Was sollte mir das bringen?“ wollte sie mit bitterer Stimme wissen.
„Zu wissen warum könnte helfen, das Wo herauszukriegen.“
„Lassen Sie mich die Frage anders stellen“, sagte sie, wohlwissend, dass ihre Wut gerade die Oberhand gewann, ohne dies ändern zu können.
„In Ordnung.“
„Wieso helfen Sie mir überhaupt?“ fragte sie. „Haben Sie mich die ganze Zeit, seit wir uns kennen, gelenkt?“
„Ich kann Ihnen folgendes sagen, Detective. Sie wissen, womit ich mein Geld verdient habe. Sie wissen, dass ich den Klau von Kindern aus ihren Familien koordiniert habe, um sie anderen Familien zuzuführen, oft gegen eine sehr hohe Gebühr. Dies konnte ich aus der Entfernung tun, benutzte einen falschen Namen und konnte ein glückliches, unkompliziertes Leben führen.
„Als John Johnson?“
„Nein, mein glückliches Leben führte ich als Thomas Anderson. Mein Deckname war John Johnson, der Entführungsexperte. Als ich geschnappt wurde, habe ich mich an jemanden gewandt, den wir beide kennen, um sicherzustellen, dass John Johnson entlastet wurde und niemals eine Verbindung zu Thomas Anderson hergestellt werden konnte. Das war vor fast zehn Jahren. Unser Freund hat abgelehnt. Er sagte, er repräsentiere nur diejenigen, die vom System unfair behandelt wurden und dass ich – und es ist witzig, wenn man jetzt darüber nachdenkt – ein Krebsgeschwür jenes Systems sei.“
„Das ist witzig“, sagte Keri ohne zu lachen.
„Aber Sie wissen ja, dass ich überzeugend sein kann. Ich überzeugte ihn davon, dass ich Kinder aus reichen Familien, die diese Kinder nicht verdient hatten, entführte und sie Familien zuführte, denen weniger Mittel zur Verfügung standen. Dann bot ich ihm eine immense Summe an, um einen Freispruch zu erwirken. Ich glaube, er wusste, dass ich log. Denn wie hätten diese ärmeren Familien mich bezahlen sollen? Und waren die Eltern, die ihre Kinder verloren, wirklich alle so schrecklich? Unser Freund ist sehr smart. Er musste es wissen. Aber ich gab ihm etwas, an dem er sich festhalten konnte, damit er sich etwas vormachen konnte, als er die sechsstellige Summe in bar von mir annahm.“
„Sechsstellig?“, wiederholte Keri ungläubig.
„Wie ich schon sagte, es ist ein sehr lukratives Geschäft. Und das war erst die erste Zahlung. Über den Zeitraum des Prozesses hinweg habe ich ihm ungefähr eine halbe Million Dollar gezahlt. Damit war er ein gemachter Mann. Nachdem ich freigesprochen wurde und anfing, unter meinem eigenen Namen zu arbeiten, half er mir sogar mit den Zuführungen von Kindern an ‚würdigere‘ Familien. Sofern er einen Weg fand, die Transaktionen