„War Coy auch Anwalt?“, wollte Ray wissen.
„Wohl kaum“, sagte Mags. „Während seiner gesamten Teenagerjahre hatte Coy Ärger mit dem Gesetz – meist ging es um kleine Sachen. Aber mit einunddreißig wurde er wegen sexueller Nötigung verhaftet. Im Grunde wurde er beschuldigt, sich an einer Neunjährigen vergangen zu haben, die in der Nähe wohnte.“
„Und Cave verteidigte ihn?“
„Nicht offiziell. Aber direkt nach der Verhaftung nahm er eine neunmonatige Auszeit von seinem Job bei der Staatsanwaltschaft. Er war nicht Trembleys offizieller Verteidiger und sein Name taucht auch nirgendwo in den Akten auf, die bei Gericht eingereicht wurden.“
„Ich höre da ein Aber“, meinte Ray.
„Du hörst richtig, mein Lieber“, verkündete Mag. „Aber steuerlich hat er als Beruf in diesem Zeitraum ‚Juristischer Berater‘ angegeben. Und ich habe Formulierungen in den Schriftsätzen in Trembleys Fall verglichen. Die Logik und einige der Formulierungen ähneln denen von Caves jüngeren Fällen ganz gewaltig. Ich denke, man kann davon ausgehen, dass er heimlich seinem Bruder geholfen hat.
„Wie ist es gelaufen?“ wollte Ray wissen.
„Ziemlich gut. Die Jury in Coy Trembleys Fall war sich nicht einig. Die Ankläger diskutierten gerade, ob man ihn erneut vor Gericht stellen sollte, als der Vater des Mädchens in seinem Apartment fünfmal auf ihn geschossen hat, einmal auch ins Gesicht. Er hat nicht überlebt.“
„Wow“, murmelte Ray.
„Ja“, stimmte Keri zu. „Ungefähr zu dieser Zeit kündigte Cave seinen Job bei der Staatsanwaltschaft. Danach war er drei Monate lang verschwunden. Dann tauchte er plötzlich wieder auf mit einer neuen Kanzlei, die vorwiegend Firmen betreute. Er übernahm auch die Verteidigung in Wirtschaftskriminalitätsfällen und über die Jahre immer mehr pro-bono-Arbeit für Leute wie seinen Bruder.“
„Halt“, fragte Ray ungläubig nach. „Soll ich glauben, dass der Kerl Verteidiger wurde um das Andenken seines toten Bruders zu ehren, oder sowas, um die Rechte der moralisch Verkommenen zu verteidigen?“
Keri schüttelte den Kopf.
„Ich weiß es nicht, Ray“, sagte sie. „Cave hat über die Jahre fast überhaupt nicht über seinen Bruder gesprochen. Aber wenn doch, dann ist er dabei geblieben, dass er zu Unrecht beschuldigt worden ist. Er hat eisern daran festgehalten. Ich glaube, dass er seine Tätigkeit mit ehrbaren Intentionen begonnen hat.“
„Okay. Lasst uns also sagen, im Zweifel für den Angeklagten. Aber was ist dann mit ihm passiert?“
Mags übernahm.
„Nun ja, es ist ziemlich klar, dass die Schuld seiner meisten pro-bono-Mandanten hochgradig fragwürdig war. Einige schienen einfach aus Gegenüberstellungen oder von der Straße abgegriffen worden zu sein. Manchmal hat er sie frei bekommen, normalerweise nicht. Währenddessen hielt er Reden auf Bürgerrechtskonferenzen – gute Reden übrigens, sehr leidenschaftlich. Es war sogar die Rede davon, dass er sich eines Tages zur Wahl aufstellen lassen würde.“
„Bis hierher hört sich das nach einer amerikanischen Erfolgsstory an“, meinte Ray.
„Das war es“, stimmte Keri zu. „Bis ungefähr vor zehn Jahren. Da hat er den Fall eines Typen übernommen, der nicht ins Schema passte. Er war ein Serienkindesentführer, der das scheinbar professionell gemacht hat. Und er hat Cave reichlich entlohnt dafür, dass er ihn verteidigte.“
„Warum hat er plötzlich diesen Fall übernommen?“, fragte Ray.
„Das ist nicht hundertprozentig klar“, sagte Keri. „Seine Arbeit für Firmenkunden hatte noch nicht so recht Momentum angenommen. Es könnte also eine finanzielle Begründung geben. Vielleicht hat er aber auch diesen Kerl nicht als so verwerflich angesehen wie andere. Die Anklage gegen ihn lautete auf Auftragskidnapping, nicht auf sexuellen Übergriff oder Nötigung. Der Typ entführte Kinder und verkaufte sie an den Höchstbietenden. Um das nett auszudrücken, ein Professioneller. Was auch immer die Gründe waren, Cave verteidigte den Kerl, hat einen Freispruch erwirkt, und damit nahm es seinen Anfang. Er fing an, ähnliche Mandanten zu verteidigen, wobei viele von ihnen weniger … professionell waren.“
„Ungefähr zur gleichen Zeit“, fügte Mags hinzu, „lief die Arbeit mit den Firmenkunden besser. Er verlegte sein Büro, das bis dahin ein Laden mit Schaufenster in Echo Park gewesen war, in das Hochhaus in der City, wo er jetzt noch ist. Und er hat es nie bereut.“
„Ich weiß nicht“, meinte Ray skeptisch. „Es ist schwer nachzuvollziehen, wie aus einem Bürgerrechtskämpfer, der für die am meisten Benachteiligten unserer Gesellschaft kämpft, ein gewissenloser juristischer Hai wurde, der Pädophile verteidigt und möglicherweise einen Kindersexsklavenring koordiniert. Ich komme mir vor, als ob wir irgendetwas übersehen haben.“
„Naja, du bist der Detective, Raymond“, meinte Mags bissig. „Dann bitte, ermittle.“
Ray öffnete den Mund, wollte gerade zurückschießen, als er merkte, dass er auf die Schippe genommen wurde. Alle drei lachten, froh, dass sich die Spannung entlud, die sich aufgebaut hatte. Kerri meldete sich wieder zu Wort.
„Es muss etwas zu tun haben mit dem Serienkindesentführer, den er verteidigt hat. Da hat sich alles geändert. Wir sollten uns damit einmal näher befassen.“
„Was weißt du über ihn“? fragte Ray.
„Sein Fall führt in eine Sackgasse“, sagte Mags frustriert. „Cave verteidigte ihn, hat seinen Freispruch erwirkt, und danach ist der Kerl verschwunden. Seitdem haben wir nichts über ihn herausfinden können.“
„Wie hieß der Mann?“, fragte Ray.
„John Johnson“, antwortete Mags.
„Das kommt mir bekannt vor“, murmelte Ray.
„Wirklich?“, fragte Keri überrascht. „Denn über ihn ist fast nichts zu finden. Sieht aus, als sei es eine falsche Identität gewesen. Nach seinem Freispruch gibt es keinen Eintrag über seine Existenz. Er hat den Gerichtssaal verlassen und ist komplett verschwunden.“
„Trotzdem, der Name sagt mir etwas“, sagte Ray. „Ich glaube, das war, bevor du zur Polizei kamst. Hast du versucht, an ein Bild aus der Verbrecherkartei zu kommen?“
„Damit habe ich angefangen“, sagte Keri. „Es gibt vierundsiebzig John Johnsons in der Datenbank, deren erkennungsdienstliches Foto in dem Monat seiner Verhaftung aufgenommen wurde. Ich bin noch nicht dazu gekommen, sie mir alle anzusehen.“
„Darf ich mal einen Blick darauf werfen?“
„Nur zu“, sagte Keri, brachte die Fotos auf den Bildschirm und schob ihren Laptop zu ihm herüber. Ihr war klar, dass er an etwas dran war, wollte dies aber nicht laut sagen, für den Fall, dass er sich irrte. Während er die Fotos durchsah, sprach er gedankenverloren.
„Ihr beide sagtet, er sei quasi weg , einfach verschwunden, richtig?“
„Ja“, sagte Keri, ihm im Auge behaltend, während ihr Atem sich beschleunigte.
„Fast wie… ein Geist?“ fragte Ray.
„Ja“, wiederholte sie sich.
Er hörte auf zu scrollen, und starrte auf ein Foto auf dem Bildschirm, bevor er Keri ansah.
„Ich glaube, das ist, weil er ein Geist ist; oder genauer gesagt ‚Der Geist‘“.
Ray drehte den Laptop so, dass Keri das Foto sehen konnte. Sie starrte auf das Bild des Mannes, der Jackson Cave erstmals den dunklen Pfad hinuntergeführt