Sie hielt den Atem an; sie wusste sofort, was es zu bedeuten hatte. In alten Volksweisen und Legenden hatte sie von diesem Symbol gehört. Und sie fürchtete es.
Sie drehte sich zu ihrem Mann.
„Wer würde so etwas tun?“ fragte sie entsetzt als sie ihn fest an ihre Brust drückte.
Er konnte nur verwundert seinen Kopf schütteln.
„Wir müssen uns ihm annehmen“, entschied sie.
Ihr Mann legte seine Stirn in Falten und schüttelte den Kopf.
„Wie sollen wir das anstellen?“ erwiderte er. „Wir können ihn nicht durchfüttern. Wir können uns selbst kaum ernähren. Wir haben schon drei Söhne – wozu brauchen wir noch einen vierten? Wir sind zu alt noch ein Kind aufzuziehen.“
Mithka dachte blitzschnell nach und zeigte ihm das Brandmal auf dem Arm des Kindes. Nach all den gemeinsamen Jahren wusste sie, wie sie ihren Mann überzeugen konnte. Er sah überzeugt aus.
„Da“, erwiderte sie. „Da hast du dein Zeichen. Ein Zeichen für uns“, sagte sie ernst. „Ich werde dieses Baby retten – ob es dir gefällt oder nicht. Ich werde ihn nicht dem Tod überlassen.“
Er sah immer noch skeptisch drein, wenn auch weniger entschlossen, als ein weiterer Blitz durch den Himmel zuckte und der Himmel ihn mit Furcht erfüllte.
„Glaubst du, das alles ist reiner Zufall?“ fragte er. „Ein solches Kind, das in solch einer Nacht geboren wird? Hast du irgendeine Ahnung, wen du da in deinen Armen hältst?“
Er blickte ängstlich zu dem Kind. Dann stand er auf und trat einen Schritt zurück. Schließlich drehte er sich um und trottete besorgt davon.
Mithka würde nicht nachgeben. Sie lächelte das Baby an und wiegte es an ihrer Brust, um sein kaltes Gesichtchen zu wärmen. Langsam beruhigte sich sein Weinen.
„Ein Kind so anders als wir alle“, antwortete sie, auch wenn niemand sie hörte und hielt ihn fest. „Ein Kind das die Welt verändern wird und das Royce heißen soll.“
TEIL ZWEI
KAPITEL VIER
17 Sonnenzyklen später
Royce stand auf einem Hügel unter dem weit und breit einzigen Eichenbaum in einer von Getreidefeldern beherrschten Landschaft. Ein alter Baum, dessen Geäst den Himmel zu erreichen schien. Er sah Genoveva von Liebe verzehrt tief in die Augen. Sie hielten sich bei den Händen, sie lächelte zurück, und als sie sich vorbeugten, um sich zu küssen, ward er von Ehrfurcht und Dankbarkeit erfüllt, dass sein Herz so voll sein konnte. Als die Morgendämmerung hereinbrach, wünschte sich Royce, dass er diesen Augenblick für immer festhalten könnte.
Royce richtete sich wieder auf und blickte sie an. Genoveva war bezaubernd. Sie war wie er siebzehn Jahre alt, groß, schlank und hatte fließendes blondes Haar und intelligente grüne Augen. Ein paar Sommersprossen zierten ihre anmutigen Züge. Sie hatte ein Lächeln, das ihm Lebenskraft schenkte und ein Lachen, dass ihm wohlig zumute wurde. Sie war mehr als nur das, sie hatte Liebreiz und einen Edelmut, der ihren Bauernstand weit übertraf.
Royce sah sein eigenes Bild in ihren Augen, und er staunte darüber, dass er aussah, als wären sie verwandt. Er war natürlich viel massiger als sie und für sein Alter ungewöhnlich groß, mit Schultern, die breiter waren als die seiner älteren Brüder, einem starken Kinn, einer reizenden Nase, einer hohen Stirn, einem Aufgebot an Muskeln, die sich auf seiner Tunika abzeichneten und regelmäßigen Zügen wie den ihren. Sein längliches blondes Haar fiel ihm fast in die Augen während seine haselnussgrünen Augen ihren glichen, auch wenn sie einen Ton dunkler waren. Er war mit Stärke gesegnet und mit einer Geschicklichkeit, das Schwert so wie seine Brüder zu führen, auch wenn er der jüngste unter ihnen war. Sein Vater hatte immer gescherzt, dass er vom Himmel gefallen sei, und Royce hatte es verstanden: seine Züge und sein Körperbau unterschieden sich von dem seiner Brüder. Er war wie ein Fremder in seiner eigenen Familie.
Sie umarmten sich, und es fühlte sich gut an, so fest von ihr umschlungen zu werden, jemanden zu haben, der ihn genauso liebte, wie er sie liebte. Beide waren sie seit Kindesbeinen unzertrennlich gewesen, waren zusammen aufgewachsen, hatten zusammen in diesen Felder gespielt und hatten sich schon damals geschworen, nach der Sonnenwende ihres siebzehnten Lebensjahres zu heiraten. Es war für sie als Kinder eine toternste Angelegenheit gewesen.
Als sie älter wurden, hatten sie sich nicht wie andere Kinder voneinander entfremdet, sondern waren sich Jahr um Jahr näher gekommen. Gegen jede Erwartung war aus ihrem Kinderspiel so etwas Ernsthafteres, Feierliches, Unzerbrechliches geworden, das mit jedem Jahr stärker wurde. Ihre Leben schienen dazu bestimmt, nicht auseinanderzulaufen.
Jetzt stand der langersehnte Tag unglaublicher Weise vor der Tür. Beide waren sie siebzehn, die Sommersonnenwende stand bevor, sie war erwachsen und konnten ihre eigenen Entscheidungen treffen. Als sie unter dem Baum standen und den Sonnenaufgang betrachteten, wussten sie beide, kribbelig aufgeregt, was das bedeuten sollte.
„Was denkt deine Mutter?“ fragte sie.
Royce grinste.
„Ich glaube, sie liebt dich mehr als ich es tue, falls das überhaupt möglich ist“, lachte er.
Genovevas Lachen drang bis in seine Seele.
„Und deine Eltern?“ fragte er.
Ihr Gesicht verfinsterte sich, wenn auch nur für eine Sekunde, doch ihm schwand der Mut.
„Ist es meinetwegen?“ fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
„Sie haben dich in ihr Herz geschlossen“, erwiderte sie. „Sie sind nur…“ seufzte sie. „Wir sind noch nicht verheiratet. Wenn es nach ihnen ginge, könnte es nicht schnell genug gehen. Sie haben Angst um mich.“
Royce verstand. Ihre Eltern fürchteten die Adligen. Unverheiratete Bauern, wie Royce und Genoveva es waren, hatten keinerlei Rechte; wenn die Adligen es wollten, so konnten sie jede Frau nehmen und sie für sich beanspruchen. Bis sie verheiratet sein würden. Dann wären sie sicher.
„Schon bald“, sagte Genoveva und ihr Lächeln leuchtete.
„Sind sie erleichtert, weil ich es bin oder weil du vor den Adligen in Sicherheit sein wirst, wenn wir erst einmal verheiratet sind?“
Sie lachte und schlug ihn neckend.
„Sie lieben dich wie den Sohn, den sie niemals hatten!“ sagte sie. „Und ich liebe dich auch. Hier, das ist für dich.“
Sie streckte ihm etwas entgegen, das an einem Faden hing. Es war kaum mehr als ein Stück Draht. Doch es enthielt eine Locke von Genoveva. Für Royce jedoch war es das kostbarste, was er jemals gesehen hatte. Er nahm es an sich und steckte es in sein Hemd, ganz nah an seinem Herzen.
Er griff nach ihrem Arm und küsste sie.
„Royce!“ rief eine Stimme.
Royce drehte sich um und sah seine drei Brüder in einer großen Gruppe mit Genovevas Schwestern und Cousinen den Hügel hinaufkommen. Sie alle hielten Sicheln und Heugabeln in der Hand und waren bereit, den Arbeitstag anzugehen. Royce atmete tief durch, denn er wusste, dass die Zeit des Abschieds gekommen war. Sie waren immer noch Bauern, und sie konnten es sich nicht erlauben, sich einen ganzen Tag frei zu nehmen. Die Hochzeit musste bis zum Sonnenuntergang warten.
Royce machte es an diesem Tag nichts aus zu arbeiten, doch litt er mit Genoveva. Er wünschte, dass er ihr mehr zu bieten gehabt hätte.
„Ich wünschte, du könntest dir heute frei nehmen“, sagte Royce.
Sie lächelte erst, und dann lachte sie.
„Das Arbeiten macht mich glücklich. Es lenkt mich ab. Vor allem“, sagte sie und beugte sich vor um seine Nase zu küssen, „von dem Gedanken wie lange es dauert, bis ich dich heute wieder zu Gesicht bekomme.“
Sie küssten sich, und