„Hör auf , dich zu wehren“, befahl er ihr. „Ich versuche, dein Leben zu retten.“
Zwar war Rea von der Wahrheit seiner Worte nicht überzeugt, und doch hörte sie auf, sich zu wehren. Er ritt weiter durch das Dorf und bahnte sich seinen Weg durch die Schreckensszenerie der Straßen. Dabei entfernte er sich auch immer weiter von ihrem Zuhause. Ein anderer Ritter näherte sich ihnen mit erhobenem Schwert.
„Sie gehört mir“, zischte ihr Peiniger, und der andere Ritter senkte sein Schwert.
„Ich gehöre dir nicht“, sagte Rea und spürte, wie sich Panik in ihr breit zu machen begann. „Ich gehöre niemandem.“
„Diese Bauern-Huren sind ganz schön kratzbürstig, oder?“ lachte der andere Ritter.
Reas Entführer erwiderte nichts. Sie ritten aus dem Dorf hinaus und gelangten schließlich in die umliegende Natur. Plötzlich war es ganz still. Sie entfernten sich immer weiter von dem Chaos, von den Plünderungen, dem Geschrei, und Rea kam nicht umhin, sich für die Erleichterung, die sie verspürte wieder in sicherer Umgebung zu sein, schuldig zu fühlen. Sie spürte, dass sie ohne weiteres mit ihren Leuten dort hätte sterben können. Doch unter dem immer enger werdenden Griff musste sie auch erkennen, dass sie ein vielleicht noch viel grausameres Schicksal erwartete.
„Bitte“, mühte sie sich zu sagen.
Doch er drückte sie nur noch enger an sich und galoppierte noch schneller durch die endlosen Wiesen, die Hügel auf und ab bis sie an einen Ort vollkommener Stille gelangten. Es war so still und friedlich hier, dass es beinahe unheimlich war, so als wäre die Welt ein friedfertiger Ort.
Endlich hielt er unter einem alten Baum auf einer Anhöhe hoch über der Landschaft an. Es war ein Baum, den sie sofort wiedererkannte, denn sie hatte viele Male zuvor unter ihm gesessen.
In einer schnellen Bewegung sprang er ab ohne jedoch in seiner Umklammerung auch nur einen Deut nachzugeben. Sie landeten strauchelnd und stolpernd auf dem feuchten Gras, und Rea verschlug das Gewicht seines eng an sie gedrückten Körpers den Atem. Sie bemerkte, dass er ohne weiteres auch auf ihr hätte landen und sie dabei hätte ernsthaft verletzen können, doch hatte er dies nicht getan. Eigentlich hatte er ihren Fall sogar abgefangen.
„Wer bist du?“ fragte Rea. „Was willst du von mir?“
„Das würdest du nicht verstehen“, sagt der Ritter und setzte sich auf. Ein weißes Visier versperrte Rea den Blick auf sein Gesicht. Nur die mächtigen beinahe violett glänzenden Augen blitzten durch die Sehschlitze des Helmes hindurch. An seinem Pferd erblickte sie erneut das Banner, dessen Insignien sie dieses Mal genauer betrachtete: zwei Schlangen, die sich um einen Mond schlangen, ein von einem goldenen Kreis umschlossener Dolch ragte zwischen ihnen empor.
Er griff nach ihr, und Rea begann, mit den Armen zu rudern und gegen seine Rüstung zu schlagen. Doch es half nichts. Ihre zarten Hände trafen auf hartes Metall. Sie hätte genauso gut, auf einen Felsbrocken einhämmern können.
„Ich habe nicht vor, dir wehzutun“, sagte der Ritter. „Ich werde nichts tun, was du nicht auch willst.“
Rea wusste, was er damit meinte und war wie erstarrt. Sie war siebzehn. Sie hatte auf den perfekten Mann warten wollen. Sie wollte nicht, dass es so geschah. Sie hatte es sich ganz anders vorgestellt. Oder etwa nicht? In diesem Moment fiel ihr der Traum wieder ein, der sie aufgeweckt hatte und den sie seit vielen Monden geträumt hatte. Sie kannte diese Szene. Diesen Baum, das Gras, diese Anhöhe. Diesen Sturm. Diesen Mann.
Sie hatte er vorhergesehen, und sie erkannte, dass er es war, auf den sie gewartet hatte.
„Auch ich habe von dir geträumt“, sagte er. „Ich habe geträumt, dass du in Gefahr schwebtest, und ich habe von dem geträumt, was aus diesem Ort und zwischen uns hervorgehen wird. Wenn du im Dorf geblieben wärest, hätten sie dich in Stücke zerfetzt, egal wie mutig du gewesen wärest. Wir können hier jetzt etwas Neues schaffen, wenn du es denn auch willst.“
Rea erinnerte sich an die Träume, in denen sie diesem Mann begegnet war, und daran, wie es für sie gewesen war. Die Vorstellung daran ließ sie ihre Hände nach ihm ausstrecken.
„Ja“, flüsterte sie über das Prasseln des Regens hinweg.
Seine Hände glitten unter ihr Kleid während er sie sanft auf den Boden unter den Baum drückte. Rea hatte noch nie bei einem Mann gelegen. Doch hatte sie die Tiere in ihrem Dorf gesehen. Das hier war ganz anders. Der Mann über ihr entledigte sich nur von den absolut notwendigen Teilen seiner Rüstung. Nicht einmal einen Blick auf sein Gesicht durfte sie werfen. Und doch war er zärtlich mit ihr, sodass sie sich im Augenblick des Höhepunkt fest an ihn drückte.
Schon war es vorbei, und Rea blieb auf dem Gras liegen, denn sie wusste nicht, was sie als nächstes tun sollte. Sie hörte das Klimpern des Metalls als der Ritter die abgestreiften Teile seiner Rüstung wieder anlegte. Er beugte sich zu ihr, streckte die Hand aus und drückte ihr etwas zwischen die Finger.
Sie blinzelte im Regen und sah verdutzt eine goldene Kette mit einem Anhänger in ihrer Hand: zwei Schlangen um einen Mond geschlungen mit einem Dolch zwischen ihnen.
„Ich bin keine Hure, die man bezahlen muss“, zischte sie.
„Nach seiner Geburt“, antwortete er, „gib ihm das von mir und schick ihn zu mir.“
Sie blickte ihn an.
„Und jetzt verschwindest du, oder?“ sagte sie. „Einfach so.“
„Hier wirst du in Sicherheit sein“, antwortete er, „wenn ich mich zu lange entferne, werden sie anfangen, nach mir zu suchen. Es ist besser, wenn ich jetzt gehe.“
„Besser für wen?“ erwiderte Rea. Sie schloss ihre Augen. Unter dem prasselnden Regen konnte sie hören, wie der Ritter sein Pferd bestieg. Wie durch einen Nebel nahm sie das Geräusch des davongaloppierenden Pferdes wahr.
Reas Augen wurden schwer. Sie war zu erschöpft, um sich zu rühren. Dort lag sie im Regen, ihr Herz gebrochen. Sie spürte, wie süßer Schlaf sie rief, und sie erlaubte ihm, sie zu rufen. Vielleicht würden die Alpträume nun endlich ein Ende haben.
Bevor sie ihre Augen schloss, starrte sie auf das Emblem der Halskette. Sie drückte es, spürte es in ihrer Hand, das dicke Gold, das so dick war, das es ihr gesamtes Dorf ein Leben lang hätte versorgen können.
Warum hatte er es ihr gegeben? Warum hatte er sie nicht getötet?
Er, hatte er gesagt. Nicht sie. Er wusste, dass sie schwanger würde. Und er wusste, dass es ein Junge würde.
Doch wie?
Plötzlich kurz bevor der Schlaf sie holte, leuchtete es vor ihr in aller Klarheit auf. Es war der letzte Teil ihres Traumes.
Ein Junge. Sie hatte einem Jungen das Leben geschenkt. Einem aus einer zornigen und gewaltsamen Nacht geborenen.
Ein Junge, bestimmt König zu sein.
KAPITEL ZWEI
Drei Monde später
Rea stand benommen und wie in ihrer eigenen Welt verloren alleine auf der Waldlichtung. Sie hörte weder das Bächlein unter ihren Füßen noch den Vogelgesang in den dichten Wäldern, die sie umgaben. Weder bemerkte sie das Sonnenlicht, das durch die Äste brach, noch das Rudel Rehe, das sie aus der Nähe beobachtete. Die gesamte Welt schien still zu stehen während sie auf das eine Ding, das sie in ihren zitternden Händen hielt, starrte: die Adern des Ukandablattes. Sie zog ihre Hand von dem breiten grünen Blatt zurück und musste mit Schrecken beobachten, wie sich die Farbe des Blattes langsam vom Grünen ins Weiße verfärbte.
Diese Veränderung zu sehen, war als würde jemand ihr ein Messer ins Herz rammen und es umdrehen.
Das Ukandablatt veränderte seine Farbe nur, wenn die Person, die es berührte, ein Kind erwartete.
Reas