Liebe, süße Bergliot, Dank für den Geburtstagsgruß und Dank im voraus für die Büste. – Du schreibst, daß ich zu streng bin gegen Dr. N. N. Ja, wieso? Ein besseres, edleres Gemüt gibt es nicht; und eine Begabung, so fein und groß und so reif für allumfassendes Denken, daß sie Seltenes leisten könnte. Und eine Liebenswürdigkeit, eine Süße in Wesen und Augen und Lächeln, die ihn unsterblich macht bei allen, über die er sein Bild ausgegossen hat.
Aber vor lauter Selbstreflexion so unsicher, so zersplittert von eitler Gefallsucht, so eingenommen von seinen eignen Einfällen in Selbstbewunderung und der Bewunderung anderer, daß er vor sich selber nicht mehr zur Ruhe kommt. Und, um immer in günstiger Beleuchtung zu stehen, so unwahr, daß er nicht zwei Personen dasselbe erzählt! Er kann sich große Mühe geben, um etwas zu erreichen; aber hat er es erreicht, so ist er dessen in der Regel überdrüssig. Er kann sich auch um einer Laune willen wegwerfen. Eine derartig unruhige Natur ist nie über den Augenblick hinaus glücklich und wird seine Umgebung mit sich reißen. Ja, ich könnte noch lange so weitermachen. Es gibt wenige Menschen, die ich so lieb haben kann, wie solche einschmeichelnde Begabungen, die die des Geistes und des Herzens in gleich hohem Grade besitzen. Aber während ich ihn genieße, weiß ich, daß er meiner bereits müde ist. Und das Gefühl läßt niemals eine Sicherheit aufkommen.
Es hat mich geärgert, daß Du um Dein Kirchenkonzert gekommen bist. Aber es findet sich wohl etwas anderes für Dich, damit Du den Mut zum Auftreten gewinnst. Du vergißt zu erzählen, wie es mit Deinen Trillern geht? Ob Du es erfaßt hast? Hierzu – besonders aber zu der Fertigkeit, den Ton sicher eine Oktave zu schleudern, – dazu gehört eine Hundearbeit für Deine Art Stimme! Und das erfordert eine raffiniertere Natur als die Deine; denn es liegt wenig oder gar keine Virtuosenbegabung in unserer Familie – von meiner Seite eine alte Bauernsippe, und von Mutters Seite ein Gelehrten- und Handwerkerstamm. Soll sie aber trotzdem erreicht werden, so muß den Mangel an Vererbung die unglaublichste Arbeit ersetzen. Und die unermüdliche und doch vorsichtige Art, wie Du es anpackst, muß, glaube ich, zum Ziele führen. – Danke für Zola! Das ist recht! Kaufe alles, was Aufsehen macht! Hast Du je einen Menschen gekannt wie „die Frau vom Meere“? Was? – Süße Bergliot, laß uns bald von Dir hören.
Liebe Bergliot, das „mit Seele singen“ beruht nicht allein darauf, daß man selbst „Seele“ hat, die Gabe poetischer Interpretation von Wort und Musik besitzt, es beruht darauf, daß einer (oder eine) gearbeitet hat. Solange das Technische noch Schwierigkeiten macht, ist es außerordentlich schwer, mehr zu erreichen als das Technische; man hat nicht Zeit zu mehr; man wird gehemmt durch das Bestreben, es „richtig“ zu machen; das übrige muß gehen, wie es will. Aber wenn das Technische überwunden ist, dann beginnt dem der „Geist“ der Sache aufzugehen, der Gefühl dafür hat. Dieses „Gearbeitet-Haben“, so daß man in jedem einzelnen Teil Herr ist über das Technische, und dabei die seelische Offenbarung vom Sinn des Stückes hat, das ist Vorbedingung des „mit Seele Singen“. Wer ungeheuer viel studiert und viel Musik gehört hat, kommt leichter dazu; schließlich ist das Technische in dem Maß überwunden, daß man vom ersten Augenblick an einzig mit dem Geist des Stückes beschäftigt ist; für alle aber gilt es, im Augenblicke der Wiedergabe außerdem „aufgelegt“ zu sein, die Inspiration (Beseelung) des Vortrags aus der Macht des momentanen Gefühls zu schöpfen. Wer ein persönliches Leben lebt, wer gebildet ist, so daß sein (oder ihr) Verständnis feiner und mannigfaltiger ist, legt natürlich mehr hinein, als jemand, der bloß alle Kunstgriffe kennt und alle Variationen bei hundert anderen Künstlern gehört hat. Einzig die ursprünglichen Individuen sind es, die dauernd zu erschüttern vermögen; niemand sonst.
Die „reichen“ Naturen, die, welche das große Talent in den tausend Geschehnissen des Lebens geübt haben, deren Herz weich, deren Verstand scharf, deren Mut sicher geworden ist in Kämpfen ohne Zahl, die meistern sich selbst, wo sie auch stehen, sie beherrschen das „Aufgelegtsein“ wie Geister, die ihnen Untertan sind; denn das allein heißt: in sich selbst zu Hause sein, ohne daß andere einen stören können.
Vor allem, Bergliot, will das „nicht mit Seele Singen“ nur besagen, daß entweder das Stück so schwer ist oder Dir so neu und ungewohnt, daß Du nicht in seinen Geist eingedrungen bist, oder auch, daß Du nicht genügend gearbeitet hast, oder daß im Augenblick etwas Dir im Wege steht, so daß Du nicht all das herausbringst, was Du sonst in das Stück hineinlegst.
Ich rate Dir, versuch’ in den Geist jedes einzelnen Stückes auf Deine eigne Weise einzudringen und Dich nicht eher zufrieden zu geben; niemals aufzuhören bei dem ausschließlich Technischen. Je öfter Du auf diese Weise Dich selbst erwärmt hast, um so wahrer machst Du es zuletzt. Um so leichter fällt es Dir von Stück zu Stück.
Gestern bekam ich einen Brief von Franz Beyer, Griegs bestem Freund und Nachbar, mit den flehentlichsten Bitten, „Olav Tryggvason“ für ihn fertig zu schreiben. Ja, so ist es; alle wollen sie mich ausnutzen, alle, alle. Ich soll bei allem mit dabei sein, für die Interessen aller. – Kürzlich erhielten wir einen ungemein wichtigen Brief von Ejnar, er gibt gute Ratschläge für den Kampf des Tages hier daheim; als ob er von China aus eingreifen könnte! – Björn hat zwei rasend amüsante Sachen im Dagbl. geschrieben unter der Spitzmarke „Ein Zivilist“.
Ja, nun reißen sie mir den Brief weg. Hier ist Schneesturm; man sieht nicht zwanzig Ellen weit. Nett.
Liebe Bergliot, jetzt bekommst Du den „Professor“! „Die Unversöhnlichen“ von Garborg ist gar nichts wert. – Wir lesen täglich Kiellands Blatt; es ist geschmeidig, flüssig und klug geschrieben. Er ist offenbar für Politik veranlagt. Gerade jetzt zeigt er sichere Gewandtheit, während seine ganze Familie sich insolvent erklärt hat; es sieht aus, als wollten sie wieder festen Fuß fassen, und dabei wird er von allen seinen mannigfaltigen Kräften als Leiter einer Zeitung unterstützt. Vielleicht glückt es. „Monogamie und Polygamie“ ist in 11000 Exemplaren verkauft und verkauft sich ständig weiter, also Gift für Bohémiens.
Meine liebe Bergliot, die Sache mit Deinem Heimweh ist wohl auch ein bißchen Verzärtelung, weil Du niemanden hast, an den Du Dich anschließen kannst. In dieser Hinsicht ist Paris auch sonderbar; man kann jahrelang dort leben und kommt nirgendwo hinein. Oder es ist unsre eigne Schuld. Ich schrieb an Sansot, er solle Dich aufsuchen, vielleicht tut er es. – Danke dem lieben Werenskjold für seinen Brief. Dank’ ihm für all seine Güte und Treue in dem alten, schweren Jahr, ihm wie seiner Frau! Ich bin so überbürdet mit Briefen und so gedankenleer, mitten in meiner Schreiberei, daß es ihm nicht ein Jota nützte, wenn er einen Brief von mir bekäme. Nicht ein Jota. – Denke Dir, jetzt ist es erwiesen, daß noch bis ins vorige Jahrhundert Frauen in allen Handwerken vertreten waren (wie noch heute in Frankreich!); die Bürgerbriefe wurden auf Mann und Frau ausgestellt, und sie hatte Spielraum für ihre Talente; erst in diesem letzten Jahrhundert ist sie auch hier herausgedrängt worden. Gleichzeitig ist nachgewiesen, daß sie in der ersten christlichen Kirche Pfarrer war, die Sakramente austeilte, taufte, und daß sie erst im 7. Jahrhundert und im Mittelalter überhaupt so gewaltig unrein und sündig wurde, daß sie mit etwas so Heiligem nicht mehr betraut werden konnte. Und zwei Arten von Einflüssen waren es, die diese Ausschließung verursachten, ein heidnischer von dem Griechen Aristoteles her, der „das Männliche“ so hoch hielt, und ein christlicher (eigentlich ein Einfluß, der durch das Judentum in das Christentum kam), wonach die Asketen (die Selbstquäler) das Weib verfluchten. – Aber nun sind wir in dem großen Revolutionsjahr, nun soll es anders werden!
Liebe Bergliot, nur ein paar Worte in aller Eile! Herzlichen Dank für Deine treffenden Briefe, die uns jedesmal so viel Neues erzählen. Du hast doch wohl das siebente und achte Heft von Darwin gelesen. Ist „Die Entstehung der Arten“ ein Weltereignis ersten Ranges, so ist ein so lebensvoller Einblick in die Werkstätte, wo sie geworden ist, einzig in der Weltliteratur. Dieses sei die Einleitung für Deine Lektüre. Es sollen Dir ein paar Bücher von hier zugeschickt werden unter der Bedingung, daß Du sie an Ejnar weiterschickst. Auch werde ich für Dich etwas aus dem „Dagblad“ herausschneiden, das ich übersetzen ließ und