Klaus Mewes vertäute den Kahn in schiffergerechter Art, nahm seinen Jungen bei der Hand und ging mit ihm nach dem Neß zurück.
In der Dönß brannte schon die Lampe.
Als sie sich vor der Tür die Füße abschrapten, sagte Klaus halblaut: »Brukst Mudder dor ober nix van to seggen, hürst?«
»Segg du man nix, Vadder, ik will woll swiegen«, flüsterte Störtebeker kameradschaftlich und setzte sich in der Dönß gleich neben den Ofen, möglichst weit weg von der Lampe, bückte sich tief und zog umständlich die Stiefel aus, um sein Gesicht vor der Mutter zu verbergen, die gleich in richterlichem Ton fragte: »Non, neem kommt jü denn her?«
»Wi sünd mol no de Neßkul wesen«, berichtete Klaus Mewes der Wahrheit gemäß.
»Hest du ok natte Strümp, Klaus?«
»Ne, Mudder, knokendreuch!«
»Lot mol feuhlen! De un dreuch? De leckt jo vör Nattigkeit. Gliek treckst jüm ut!«
Störtebeker machte ein saures Gesicht, aber er freute sich doch, daß sie weiter nichts merkte, und wischte heimlich die letzten Spuren des Seefestigkeitskurses ab.
Nach dem Abendbrot wurde das Knütten noch eine Weile wieder aufgenommen, dann aber packten sie das Kurrengut zusammen und machten Feierabend.
Kap Horn suchte sich die alten Zeitungen aus der Bank hervor und las den Roman »Zehn Jahre unter der Erde oder Schuld und Sühne« mit aufgestützten Ellbogen. Wenn er dabei an Stellen kam, die ihm behagten, nickte er anhaltend, wogegen er bei Kapiteln, die nicht nach seinem Geschmack waren, ebenso ausdauernd den Kopf schüttelte. Ja, man konnte noch mehr aus seinem Gesicht erkennen, denn wenn er von Wind oder Sturm las (und in einem echten Seefahrtsroman weht und stürmt es ja alle drei Seiten), so pustete er leise vor sich hin. Las er von Liebe, so strich er sich über die Backen, gab es eine Mordgeschichte zu kauen, dann las er mit geballten Fäusten und so weiter. Wenn sie sturmeshalber hinter Norderney oder Wangerooge lagen, beobachtete Klaus, in der Koje liegend, seinen lesenden Knecht mitunter stundenlang und sagte dann zuletzt: »Nu will ik di mol vertillen, Kap Horn, wat du lest hest.« Und meistens stimmte es, was er dann erzählte, so daß der Knecht jedesmal erstaunt sagte: »Klaus Mees, ik gläuf, du kannst hexen.«
Diesen Abend aber kam der Schiffer nicht dazu, denn sein Junge ritt auf seinen Knien und bettelte um eine Geschichte.
»Ik weet uppen Stutz keen.«
»Och Vadder, vertill doch een! Du weest so veel.«
»Ne, ik kann nu keen tohopgrabbeln.«
»Och, man to, Vadder!«
»Non jo, denn ober ganz still wesen un eulich tohürn un noher ne wedder seggen, dat wür jo gorkeen Geschichte.«
»Ne, Vadder, dat segg ik ok nee«, versicherte Störtebeker, und sein Vater legte los.
»Non, denn hür to: Dor wür mol en Mann, de harr keen Kamm, to köfft he sik een, to harr he een…« Da hielt der Junge seinem Vater aber schon den Mund zu und schimpfte: »Dat ist keen Geschichte, dat ist Narrenkrom! Du schallst en euliche Geschichte vertillen!«
»Non, denn hör to: Dor wür mol en Mann, de wür in de Heid verbiestert, nu hür man god to! Dor wür mol en Mann, de wür in de Heid verbiestert…« Da hielt Störtebeker ihm wieder den Mund zu und sagte, das wäre auch Tüdelei.
»Non, denn hür to: To sett he sin Hot uppen Disch un seggt: Non denn so wißt, ich selbst bin Klaus Störtebeker!«
O weh – das hätte Klaus Mewes doch wohl lieber nicht vorbringen sollen, denn nun beutelte Störtebeker ihn regelrecht durch und heischte zwar etwas von Klaus Störtebeker, aber etwas anderes, nicht immer diesen einen Satz, den er schon tausendmal gehört habe.
Kap Horn legte den Finger auf das letzte Wort, das er gelesen hatte, sah auf und sagte: »Klaus Störtebeker büst du jo sülben, Junge, dor brukt di doch keen een wat von to vertellen.«
Gesa aber, die einen Flicken auf die englischlederne Hose setzte, sagte abweisend: »Lot den olen Seeräuber man ünnerwegens un näumt den Jungen man ne jümmer Störtebeker. Den olen slechten Nom ward he jo sien ganz Leben ne wedder los.«
»De Nom is gornich so slecht, Gesa«, sagte Kap Horn ernsthaft, während Klaus Mewes lachte und meinte, den Namen habe er einmal weg. Klaus Störtebeker sei übrigens gar kein schlechter Mensch gewesen, wohl habe er den reichen Kaufleuten und den Königen ihr Gold und Gut weggenommen, aber den Armen habe er viel Gutes getan, noch jetzt würden die armen Leute zu Verden von seinem Geld gespeist. Und mit den Fischern habe er es auch nicht bös gemeint: Er störte sie nicht, und wenn er Fische holte, so bezahlte er sie reichlich.
So erzählte Klaus Mewes, was die Sage an der Wasserkante zusammengetragen hat von den Vitalienbrüdern und ihrem Hauptmann Klaus Störtebeker – und der kleine Klaus Störtebeker saß mit funkelnden Augen und glühenden Backen dabei und konnte nicht genug hören, wie sie Kopenhagen in Brand steckten, wie die zerfetzte gelbe Flagge im Sturm flatterte, wie sie mit den Hamburger Schiffen umsprangen, wie sie Ritzebüttel und Neuwerk wegnahmen und wie sie den schottischen König gefangenhielten. Als Klaus aber weiterging und von dem großen, breiten Graben auf Finkenwärder erzählte, der die kleine Elbe hieß, und daß Störtebeker dort oft mit seinen Schiffen auf der Lauer gelegen habe, da sprang der Junge auf, daß Kap Horn ausrief: »Neem ist dat Füer?« Er fragte: »Vadder, neem is de Groben?«
Sein Vater beschrieb ihm diesen Graben und sagte, daß es damals noch keinen Deich gegeben habe und daß die kleine Elbe ein Priel von der großen gewesen sei. Aber er konnte es dem Jungen doch nicht recht verdeutschen, der sich einen so breiten Graben gar nicht vorstellen konnte, und es blieb schließlich nichts anderes übrig, als daß sie eine kleine, nächtliche Expedition zum Seeräubergraben ausrüsteten, die trotz aller Einwendungen von Gesa sofort ausrückte und der sich auch Kap Horn und Seemann freiwillig anschlossen.
»Klaus, blief hier, dor sitt de Brummkirl innen Groben un holt di!«
Der Junge lachte sie aus und sagte, während er sein wollenes Halstuch umband: »Brummkirl gifft ne, Mudder.«
»So?«
»Hett Vadder seggt! Dor ward bloß lütje Kinner mit bang mokt, wat se ne bit Woter gohn scheut.«
Dann schlug die Haustür knallend zu, und Gesa war wieder allein. Wie die Brechseen über dem kleinen Ewer, so schlugen die Gedanken über ihrem Kopf zusammen; sie konnte sich ihrer nicht erwehren und konnte auch die quellenden Tränen nicht hemmen. Warum mußte sie so geschaffen sein, daß sie nicht getroster Hoffnung und fröhlichen Herzens an die Seefahrt denken konnte, warum konnte sie sich der Keckheit ihres Jungen nicht freuen? Warum nicht? Sie war doch jung und gesund: Warum mußte sie da immer wieder zusammenbrechen und klein und verzagt werden, warum konnte sie ihn nicht loswerden, den furchtbaren Gedanken, daß sie den Ewer auf See untergehen und den Jungen ertrunken im Graben sehen solle? Warum wagte sie es nur mit heimlichem Grauen, helle Kleider zu tragen?
Sie begriff nicht, daß eine Seefischerfrau wie die kleine Metta Holst, die doch auch nicht am Deich großgeworden war, sondern wie sie von der Geest stammte, so fröhlich lachen und singen konnte und abends ruhig auf dem Deich unter den Linden hinter dem Spinnrad saß und spann; denn ihr Mann und ihre beiden Söhne fuhren auf einem Ewer, schwammen auf einem Stück Holz in der See. Ein Blitzstrahl, eine Brechsee konnte ihr ganzes Leben verschütten, ihr ganzes Haus verdunkeln, ihr alles, alles nehmen – und doch konnte sie singen und lachen, die Frau. Daß eine so fest stehen konnte!
Gesa schüttelte den Kopf.
Der Junge glitt ihr ganz aus den Händen. Sie hielt viel von ihm, gewiß ebensoviel wie andere Frauen von ihren Kindern. Und wenn sie ihn zügelte und ihm wehrte, wenn sie ihn dem Wasser fernzuhalten suchte, was trieb sie anderes dazu als die Liebe? Bis zu drei Jahren war der Junge ein rechtes Mutterkind gewesen, das ihr Schürzenband kaum losgelassen hatte, und sein Vater hatte sich wenig mit ihm abgegeben, sondern nur immer lachend erklärt, daß er mit so kleinen Gören nicht umzugehen wisse; ein Mann, der ein kleines Kind auf dem Arm habe, komme ihm vor wie ein Hahn,