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Ein anderes Beispiel für die unterschiedliche Aufgabenstellung von Anästhesist und Operateur und die daraus sich ergebende Folgerung, dass keine gegenseitigen Kontrollpflichten bestehen, bietet der vom LG Kassel entschiedene Fall einer Lungenoperation, bei der infolge der im Operationsplan falsch ausgewiesenen Seitenlokalisation statt des rechten, an einem Bronchialkarzinom erkrankten Ober- und Mittellappens der Lunge, die linke, nicht vom Tumorleiden betroffene Lungenseite, operiert worden war. Die Frage, ob die Anästhesisten die falsche Seitenangabe bei Wahrung der zu fordernden fachlichen Sorgfalt hätten erkennen müssen, wurde vom fachanästhesiologischen Gutachter eindeutig – und mit Recht – verneint. Denn die Aufgabe des Anästhesisten besteht zum einen darin, den Patienten in einen Zustand zu bringen, der die Durchführung des geplanten operativen Eingriffs erlaubt, und zum anderen in der adäquaten Überwachung und gegebenenfalls Sicherung der Vitalfunktionen. Es ist aber „keinesfalls zwingende Aufgabe des Anästhesisten, die Richtigkeit der operativen Planung einschließlich der Angabe der Seitenlokalisation eines operativen Eingriffs im OP-Plan vor oder während des Eingriffs und der Anästhesie zu überprüfen“, so dass das Nichterkennen der Seitenverwechslung durch den Anästhesisten für diesen keinen Sorgfaltspflichtverstoß begründet.[84]
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Umgekehrt folgt daraus aber zugleich, dass „die strafrechtliche Eigenverantwortung“ des Anästhesisten „für eine lege artis durchzuführende Narkose, wozu die entsprechende medizinisch mögliche Vorbereitung des Patienten gehört, durch die Verantwortung des Chirurgen für eine zutreffende Diagnose und seine Entscheidung über die Notwendigkeit eines operativen Eingriffs nicht unmittelbar berührt wird. Eine Ausnahme könnte nur gelten, wenn nach dem Urteil des Chirurgen eine unverzügliche, keinerlei Aufschub mehr duldende Operation deshalb durchzuführen ist, weil anderenfalls mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Tod des Patienten eintreten würde“[85].
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Aus der dargelegten Aufgabenabgrenzung zwischen Chirurgie und Anästhesie folgt darüber hinaus, dass bei Meinungsverschiedenheiten der Chirurg die letztlich verantwortliche Entscheidung über die Vornahme der Operation und deren Zeitpunkt trifft[86]. Der Anästhesist darf seine Mitwirkung nur dann verweigern, wenn das Narkoserisiko offensichtlich höher als das Operationsrisiko einzuschätzen oder aber der Operateur, z.B. infolge eines epileptischen Anfalls, erkennbar seinen Aufgaben nicht gewachsen ist[87]. Der Anästhesist, der diese „Kompetenzkompetenz“ des Operateurs – von solchen Ausnahmefällen abgesehen – nicht beachtet und seine Mitwirkung bei der Operation verweigert, setzt sich nicht nur der Gefahr strafrechtlicher Konsequenzen aus, sondern auch seine berufliche Existenz aufs Spiel, da die außerordentliche Kündigung seines Arbeitsverhältnisses in einem derartigen Fall für rechtens befunden wird.[88]
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Andererseits aber muss der Anästhesist nötigenfalls alles in seiner Macht Stehende tun, um den Operateur zum Abbruch einer keineswegs dringlichen Operation (Entfernung der Polypen bei einem 11-jährigen Kind) zu bewegen und seinen Standpunkt auch durchzusetzen, wenn sich z.B. in der ersten Phase des Eingriffs zweimal eine äußerst bedrohliche Verlegung des Tubus ereignet, die beide Male nur durch sofortige Extubation beseitigt werden konnte. Hier darf die Operation nicht fortgesetzt, vielmehr muss nach der Ursache der Beatmungschwierigkeiten gesucht werden, da dann der Narkosezwischenfall bei der dritten (!) Intubation mit bleibenden schweren cerebralen Funktionsstörungen vermieden worden wäre.
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(b) Das zweite Grundsatzurteil des BGH[89] betraf die Kompetenzabgrenzung zwischen Chirurg und Anästhesist bei der postoperativen Überwachung:
Eine 38-jährige Patientin wurde nach einer fast 7 Stunden dauernden Operation (Reithosenplastik) in ansprechbarem Zustand auf die dem Chirurgen unterstehende Intensivstation gebracht, auf der ein Assistenzarzt und eine Krankenschwester den Nachtdienst versahen. In der Nacht erlitt die Patientin durch starke Nachblutungen einen erheblichen Blutverlust, der vom Nachtdienstpersonal nicht bemerkt und ausgeglichen wurde, so dass sie am folgenden Tag morgens nach einem erfolglosen Rettungsversuch infolge Herz-Kreislaufversagens starb.
Zutreffend wies der BGH darauf hin, dass es für den Grenzbereich bis zum Erwachen aus der Narkose oder darüber hinaus bis zur vollen Aufhebung der Betäubungswirkungen „einer konkreten Verteilung der Zuständigkeiten“ bedarf, „um Überschneidungen und Lücken in der ärztlichen Betreuung zu vermeiden“[90]. Maßgebend ist dabei regelmäßig die jeweilige, in dem betreffenden Krankenhaus geltende Aufgabenverteilung bzw. ausnahmsweise die davon wegen der Besonderheiten des Einzelfalles abweichende individuelle Absprache zwischen den beteiligten Ärzten. Fehlt es an speziellen Abmachungen, gelten subsidiär die von den beteiligten Berufsverbänden getroffenen Vereinbarungen[91]. Danach ist der Verantwortungsbereich des Anästhesisten auf die postnarkotische Phase bis zur Wiederherstellung der Vitalfunktionen beschränkt, „sofern ihm nicht vom Krankenhausträger weitergehende Aufgaben, z.B. die organisatorische Leitung der Wachstation übertragen“ sind. Nachuntersuchung und Nachbehandlung fallen dagegen nur dann in die Kompetenz des Anästhesisten, „sofern sie unmittelbar mit dem Betäubungsverfahren in Zusammenhang stehen“. Dagegen ist für Komplikationen, die sich aus der Operation selbst ergeben, wie z.B. Nachblutungen, der Chirurg verantwortlich, der auch bei Überschneidung der fachlichen Zuständigkeit die „Primärkompetenz“ hat[92].
Die Anästhesistin war daher im vorliegenden Fall freizusprechen, was das Landgericht in I. Instanz leider verkannt hatte, nach Aufhebung und Zurückverweisung des Urteils durch den BGH dann jedoch rechtskräftig aussprach.
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Unrichtig ist dagegen das Urteil des LG Augsburg vom 1.3.2005,[93] in dem es heißt, „die Verantwortung für die postoperative Überwachung der Patientin“ sei „eindeutig in den Bereich des Anästhesisten gefallen“. Zwar habe es „eine abweichende hausinterne Regelung gegeben, wonach die postoperative Überwachung von Kaiserschnitt-Patientinnen der Hebamme oblag“, doch hätten die Sachverständigen überzeugend ausgeführt, dass „derartige Hausregeln nicht die Berufsregel aufheben und außer Kraft setzen können“, so dass es „bei der Verantwortlichkeit des Anästhesisten“ verbleibe. Diese Ausführungen stehen in krassem Widerspruch zu der – zutreffenden – Rechtsansicht des BGH, wonach die Vereinbarungen, Empfehlungen und Entschließungen der Wissenschaftlichen Fachgesellschaften und/oder der Berufsverbände nur subsidiär[94] gelten, die individuelle Regelung des betreffenden Krankenhauses dagegen Vorrang hat.
Für den angeklagten Gynäkologen kam es auf diese Frage nicht an: „Weder nach der Berufsregel noch nach der hausinternen Regelung war er für die Überwachung der Patientin nach Beendigung der Operation verantwortlich, so dass er mit Recht freigesprochen wurde.
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(c) Die vorstehenden Grundsätze hat der BGH vielfach, zusammenfassend in einer – zivilrechtlichen – Entscheidung betreffend eine HNO-Operation bestätigt, der folgender Sachverhalt zugrunde lag:[95]
Der Patient litt an einer Insuffizienz der Nebennierenrinde (sog. Morbus Addison). Er nahm auf ärztliche Verordnung seit 1982 zur Substituierung der fehlenden Hormone u.a. morgens und abends ein Cortisol-Präparat ein. Wegen wiederholten Nasenblutens wurde er als Kassenpatient in der HNO-Klinik stationär aufgenommen. Er legte dort seinen Notfallausweis vor, in dem sein Leiden bezeichnet und vermerkt war, dass im Falle einer Erkrankung oder bei einem Unfall der Corticoidmangel auszugleichen sei.