221
Nur ausnahmsweise dann, wenn der Partner in der konkreten Situation erkennbar seinen Aufgaben nicht gewachsen ist, sich z.B. infolge Trunkenheit, Krankheit, Überforderung oder Erschöpfung in einer Verfassung befindet, die ihm nicht mehr gestattet, seine Aufgaben ordnungsgemäß zu erfüllen, oder wenn aufgrund bestimmter Anhaltspunkte „ernsthafte Zweifel an der Ordnungsgemäßheit der Vorarbeiten des Kollegen erkennbar“ sind, ist der Vertrauensgrundsatz aufgehoben[73]. An die Stelle der grundsätzlichen Eigenverantwortung jedes Beteiligten für seinen Teilbereich tritt dann für den an sich nicht zuständigen Arzt in solchen Ausnahmesituationen die Gesamtverantwortung für das Ganze der zum Wohle des Patienten entfalteten, in verschiedener Hand liegenden ärztlichen Tätigkeit. Denn in derartigen extremen Ausnahmefällen bleibt natürlich jeder Arzt – unabhängig von seiner jeweiligen Fachkompetenz und Aufgabenstellung – aufgrund seiner Verantwortung dem Patienten gegenüber verpflichtet, den diesem aus einer offenkundigen bzw. erkennbaren Fehlleistung seines Kollegen oder des Pflegepersonals drohenden Schaden abzuwenden. Hier endet das berechtigte Vertrauen, und die (eigene) strafrechtliche Pflichtverletzung beginnt. Dabei sind die Anforderungen an die Geltung des Vertrauensschutzes umso höher, je größer das Risiko eines Behandlungsfehlers und die daraus resultierende Gefährdung des Patienten ist.[74]
222
Der Vertrauensgrundsatz bedarf ferner dort einer Einschränkung, wo „das besondere Risiko der Heilmaßnahme gerade aus dem Zusammenwirken zweier verschiedener Fachrichtungen und einer Unverträglichkeit der von ihnen verwendeten Methoden oder Instrumente“ folgt. Insoweit gilt bei arbeitsteiliger Krankenbehandlung ein weiteres Grundprinzip: die Koordinierungspflicht.
Beispiel:
Bei einer sog. Schieloperation führte der Anästhesist lege artis eine Ketanest-Narkose durch, bei der der Patient reinen Sauerstoff in hoher Konzentration erhält, während der Augenarzt zur Blutstillung einen Thermokauter einsetzte, mit dem verletzte Gefäße durch Erhitzung verschlossen werden. Beim Kautern kam es zu einer heftigen Flammenentwicklung, durch die das Kind schwere Verbrennungen im Gesicht erlitt.
Der BGH betonte in seiner Entscheidung, der Anästhesist habe den Erfordernissen des operativen Vorgehens Rechnung zu tragen und müsse seinerseits über die Wahl des anästhesiologischen Verfahrens im Benehmen mit dem Operateur entscheiden. Da „das Wohl des Patienten oberstes Gebot und Richtschnur sei“, müsse für die Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Ärzten der Grundsatz gelten, dass diese „den spezifischen Gefahren der Arbeitsteilung entgegenwirken müssen und es deshalb bei Beteiligung mehrerer Ärzte einer Koordination der beabsichtigten Maßnahmen bedarf, um zum Schutze des Patienten einer etwaigen Unverträglichkeit verschiedener von den Fachrichtungen eingesetzter Methoden oder Instrumente vorzubeugen“.[75] Aus dem arbeitsteiligen Zusammenwirken folgt also die Verpflichtung zu gegenseitiger Information und Abstimmung, um vermeidbare Risiken für den Patienten auszuschließen, auch „wenn insoweit keine ausdrückliche Vereinbarung“ besteht.[76]
Allerdings stellt einen (zivilrechtlich: groben) Behandlungsfehler von Anästhesist und Chirurg dar, wenn beide zutreffend erkennen, dass bei einem Patienten mit Blutgerinnungsstörung zur Vermeidung eines Blutungsgeschehens bei operativer Behandlung unter Durchführung einer Spinalanästhesie die – operative und anästhesiologische – Indikation zur Gabe eines die Blutungszeit verkürzenden Präparats besteht, jedoch versäumen, koordiniert sicherzustellen, dass dieses Präparat präoperativ verabreicht wird.[77]
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Die vorgenannten Grundsätze der horizontalen Arbeitsteilung finden „nur bei der gleichzeitigen Behandlung durch Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen oder gleicher Fachrichtung mit besonderen Spezialkenntnissen“ Anwendung,[78] nicht aber bei bloß „zeitlicher Nachfolge von Ärzten des gleichen Fachs“. In diesen Fällen „hat der nachfolgende Arzt Diagnose- und Therapiewahl seines ‚Vorgängers‘ eigenverantwortlich zu überprüfen“.[79] Wenn sich also ein Radiologe die von einem anderen Radiologen zuvor gefertigten Röntgenaufnahmen nicht genau ansieht, sondern dessen Diagnose ungeprüft übernimmt, obwohl er eine Bruchlinie auf den Röntgenbildern und damit eine Stauung der Wirbelsäule hätte erkennen können,[80] trifft ihn der Vorwurf eines Behandlungsfehlers.
c) Arbeitsteilung und Vertrauensgrundsatz in typischen Fallkonstellationen
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Wie sich die strikte Arbeitsteilung und der Vertrauensgrundsatz im Einzelnen bei den verschiedenen, oben herausgestellten Fallgestaltungen auswirken, welchen Umfang und welche Grenzen diese Prinzipien in concreto haben, sei nachfolgend anhand einiger praktischer Fälle veranschaulicht:
aa) Arbeitsteilung und Vertrauensgrundsatz im Bereich horizontaler Arbeitsteilung
(1) Fallgruppe 1a: Interdisziplinäre ärztliche Zusammenarbeit im stationären Bereich
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Der BGH hat in zwei grundlegenden Entscheidungen[81] die Abgrenzung der Verantwortlichkeiten bei der Kooperation von Fachärzten verschiedener Fachgebiete am Beispiel der Zusammenarbeit zwischen Chirurgen und Anästhesisten behandelt. Die von der Rechtsprechung zu diesem Problemkreis aufgestellten Prinzipien sind jedoch grundsätzlicher Natur, so dass die maßgeblichen Entscheidungssätze vice versa auch im Verhältnis anderer Fachärzte zueinander Gültigkeit haben.
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(a) Das erste Grundsatzurteil betraf eine Anästhesistin, die zu einer 18-jährigen Patientin gerufen wurde, als diese bereits auf dem Operationstisch lag. Da der Operateur aufgrund seiner Voruntersuchung eine „normale, akute Blinddarmentzündung“ diagnostiziert hatte, fragte die Anästhesistin die Patientin lediglich, ob sie nüchtern sei, was diese bejahte, unterließ es aber, ihren Bauch abzutasten oder nach Darmgeräuschen abzuhören. Da die Patientin jedoch zusätzlich an einer Darmlähmung erkrankt war, befanden sich im Magen und Darm mehrere Liter unverdauter Speisereste, die sie bei Einleitung der Narkose vor Einführung des Tubus erbrach. Dadurch kam es zu einer Aspirationspneumonie, an deren Folgen die Patientin zwei Tage später starb.
Der BGH bestätigte in dieser Entscheidung, dass zur Verantwortungsabgrenzung „bei der ärztlichen Zusammenarbeit im Operationssaal der Vertrauensgrundsatz zur Anwendung“ kommen müsse. Dieser besagt, „dass im Interesse eines geordneten Ablaufs der Operation sich die dabei beteiligten Fachärzte grundsätzlich auf die fehlerfreie Mitwirkung des Kollegen aus der anderen Fachrichtung verlassen können“. Denn die zunehmende Spezialisierung in der Medizin habe zu einer Vielzahl eigenständiger Fachgebiete geführt und mit dem Übergang fachlicher Zuständigkeit auch die rechtliche Eigenverantwortlichkeit des jeweiligen Spezialisten begründet. „Wenn Operateur und Anästhesist ihre Kräfte zu Gunsten einer wechselseitigen Überwachung zersplitterten, würde jede Form der Zusammenarbeit im Operationssaal fragwürdig und mit zusätzlichen Risiken für den Patienten verbunden.“[82]
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Im Verhältnis zwischen Chirurg und Anästhesist bedeutet dies konkret: Die präoperative Versorgung des Patienten obliegt dem Anästhesisten. Er hat die „Narkosefähigkeit“, d.h. die operative Belastbarkeit des Patienten durch den beabsichtigten Eingriff und die Narkose zu prüfen. Er bestimmt das Narkoseverfahren und trifft danach seine Vorbereitungen, „zu denen es auch gehört, sich von der Nüchternheit des Patienten zu überzeugen“, um die „nahe liegende Gefahr einer Aspiration zu vermeiden“. Der Chirurg dagegen entscheidet darüber, „ob, wo und wann der Eingriff durchgeführt werden soll“. Dabei wägt er nicht nur das Operationsrisiko ab, sondern kalkuliert zumindest auch das allgemeine Narkoserisiko mit ein.
Daraus folgt: Die Anästhesistin war im vorliegenden Falle weder berechtigt noch verpflichtet, das Untersuchungsergebnis des Chirurgen