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Die vorsichtig tendierende Rechtsprechung wird im Schrifttum teilweise als eine verfehlte „Heilwillentheorie“ kritisiert, die allzu abstrakte Betrachtung fördere und sachverhaltsabgewandt die Vorsatzfeststellung zulasten der Ärzte erschwere.[22] Daran ist richtig, dass eine fallabgewandte, belastende Indizien des Einzelfalles nicht mehr wahrnehmende Entscheidungspraxis ein unbegründetes und allzu pauschales „Ärzteprivileg“ schaffen würde.[23] Die schon allgemein zu befürwortende Vorsicht darf diese Überlegung ihrerseits aber nicht überspielen. Es besteht insbesondere kein Grund, gerade beruflich bedingt mit Todesfällen konfrontierte Ärzte nun regelmäßig mit Schwurgerichtsverfahren zu überziehen. Ebenso darf auch bei den Ärzten nicht übersehen werden, dass bei der Tatfrage des Vorsatzes unterschiedliche Würdigungen des Einzelfalles möglich sind. Allein der Umstand, dass etwa im Fall des Schönheitschirurgen ein anderes Ergebnis bei nuanciert anderen Feststellungen vertretbar erscheint, macht weder die Rechtsprechung des BGH noch die Einzelfallentscheidung unrichtig.[24]
Anmerkungen
Vgl. die Nachweise bei Ulsenheimer MedR 1987, 208.
Zur jurist. Verarbeitung OLG Oldenburg medstra 2019, 101 und Dann medstra 2019, 1 f.
Zu diesem Problemkreis siehe eingehend zum Meinungsstand m.w.N. Krell medstra 2017, 3 und 90; J. Krüger HRRS 2016, 148 f.; siehe ferner Rn. 1160 ff.
Dazu anhand des Eröffnungsbeschlusses OLG Oldenburg medstra 2019, 101, 103 f.
Bestätigend BGHSt 56, 277, 287 ff. In diesem Verfahren wurde der Angeklagte schließlich wegen versuchten Mordes verurteilt, Ulsenheimer, Vorauflage, Rn. 618.
M.w.N. zu diesem allgemeinen Maßstab OLG Oldenburg medstra 2019, 101, 103 f.
Gleichsinnig etwa schon BGH NStZ 2004, 35, 36; medstra 2015, 41, 44 – Rn. 45 (nicht am Wohl des Patienten ausgerichtetes Handeln häufig fernliegend); Ulsenheimer, Vorauflage, Rn. 618; Spickhoff/Knauer/Brose §§ 211, 212 Rn. 16; letztlich wohl auch Kudlich NJW 2011, 2856, 2857.
Siehe auch schon BGH NStZ 2004, 35, 36 f.: Erörterung unter besonderen Umständen geboten.
Hier für einen hinreichenden Tatverdacht bzgl. vorsätzlichen Handelns OLG Oldenburg medstra 2019, 101, 103 f.
Siehe auch mit einer bemerkenswerten Einreihung in die allgemeine Auseinandersetzung um das rechte Verständnis der „Hemmschwellentheorie“ OLG Oldenburg medstra 2019, 101, 103 f., aber mit einer – für den Fall – doch sehr weitgehenden Einforderung vertrauensbegründender Umstände.
BGHSt 56, 277, 284 ff.; bekräftigend m.w.N. BGHSt 63, 88, 93 ff.; m.w.N. Matt/Renzikowski/Gaede § 15 Rn. 8, 15 ff., 26.
Anhand der Fälle zur Manipulation der Organvergabe BGHSt 62, 223 = BGH medstra 2017, 354, 359 f. – Rn. 47 ff.; zur aufgeschobenen Patientenverlegung BGHSt 56, 277, 284 ff.
Bekräftigend m.w.N BGHSt 63, 88, 93 ff; BGH NStZ 2004, 35, 36; m.w.N. Matt/Renzikowski/Gaede § 15 Rn. 22 f.; a.A. – in Abweichung vom geltenden Recht – Kubiciel/Wachter HRRS 2018, 332 und Puppe ZIS 2017, 439.
BGHSt 56, 277 ff. = NJW 2011, 2895 = MedR 2012, 111 = NStZ 2012, 86; fortführend dann BGH NJW 2012, 2898. Eine Einordnung unter § 227 StGB akzeptiert auch BGH BeckRS 2004, 14880.
BGHSt 56, 277, 284 ff.
Zu entsprechenden Umständen beispielhaft BGH NStZ 2004, 35.
BGHSt 56, 277, 286: Schwerpunkt des Vorwurfs lag auf dem Unterlassen der Veranlassung der medizinisch gebotenen cerebralen Reanimation in einer Intensivstation eines Krankenhauses und nicht im bloßen Zuführen – zudem eher nutzloser – kreislaufstabilisierender Medikamente.
BGHSt 56, 277, 287 ff., u.a. auch mit näheren Erwägungen zu den Mordmerkmalen einschließlich der sonst niedrigen Beweggründe.
BGH NJW 2012, 2898.
Dazu näher BGH NJW 2012, 2898 f.
BGH Beschl. v. 10.3.2014 – 5 StR 51/14.
J. Krüger HRRS 2016, 148, 151 ff., u.a. mit einem Rekurs auf die fragwürdige Maßstabsanwendung im „Fall Céline“; Neelmeier ArztR 2011, 256, 263; LK/Rissing-van Saan/Zimmermann § 212 Rn. 44 f.; verhaltener krit. Sternberg-Lieben/Reichmann MedR 2012, 97 ff.; siehe auch die Berliner Verurteilung besonders begrüßend Neelmeier DÄBl. 2012, A 856.
Treffend auch LK/Rissing-van Saan/Zimmermann § 212 Rn. 44: Bei belastenden Indizien kann die Ablehnung des Vorsatzes nicht allein auf einen allgemeinen Heilungswillen gestützt werden.