45
Denkunmöglich ist eine vorsätzliche Tötung und damit eine Strafbarkeit gem. § 212 (Totschlag) oder § 211 StGB ([Verdeckungs-]Mord)[5] durch einen Arzt auch im beruflichen Kontext nicht. Weil der Eventualvorsatz genügt, ist die Vorsatzschwelle schon dann überschritten, wenn ein Mediziner den Todeseintritt für möglich hält und diesen billigend in Kauf nimmt, was explizit keinen eigentlichen Tötungswunsch voraussetzt.[6] Zu Recht haben aber Ermittlungsverfahren, die sich nach möglichen Behandlungsfehlern regelmäßig auch auf den Vorwurf einer vorsätzlichen Tötung richten, zu unterbleiben. Der Tatverdacht ist nicht mit einer beliebigen Vermutung zu verwechseln. Er bietet keinen Raum, auf Grund von exzeptionellen Einzelfällen stets die vorsätzliche Inkaufnahme des Todes seitens des behandelnden Arztes zu erwägen. Die auch für den Kriminalisten leitende Erfahrung lehrt, dass Ärztinnen und Ärzte dominant mit dem Ziel agieren, mit ihrem beruflichen Tun und Unterlassen den Patienten zu heilen oder seine Leiden zu lindern.[7] Anderes kann im beruflichen Kontext dann – und nur dann – gelten, wenn im konkreten Einzelfall Indizien gerade den ungebrochenen Heilungswillen erschüttern. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn eine Patientin mit lebensgefährlichen Komplikationen (ambulant) operiert wurde und der Behandelnde unverständlicherweise die Verlegung auf eine Intensivstation aufschiebt,[8] Angehörige zum Zustand der Patientin belügt und möglicherweise gehandelt hat, um eine Offenlegung früherer Behandlungsfehler zu vermeiden (näher sogleich Rn. 47 ff.). Gleiches kann ferner gelten, wenn handlungsverpflichtete Ärzte starke Indizien für tödliche Patientenschädigungen durch einen Pfleger sammeln, in diesem Wissen aber keine geeigneten Maßnahmen zur Beseitigung der später realisierten Gefahr für weitere Patienten einleiten.[9]
46
Steht ein solcher Fall vor Gericht zur Beurteilung an, gelten materiell-rechtlich und strafprozessual für die Ärzte keine Sonderregeln.[10] Zum Tragen kommen muss aber die gem. § 261 StPO allgemein für die Vorsatzprüfung gebotene vorsichtige Gesamtwürdigung des Sachverhalts; schon sie steht einem pauschalen Schluss aus der objektiven Gefährlichkeit einer Handlung auf die Elemente des Vorsatzes entgegen.[11] Sie zwingt – wie der BGH mit Fug und Recht bestätigt hat – etwa in den Fällen der (möglicherweise) manipulierten Organvergabe dazu, auch vorsatzkritische Indizien sorgfältig festzustellen und in der Beweiswürdigung auszuwerten (siehe näher Rn. 894 f.).[12] Und gerade hier ist der nicht nur kontrafaktisch unterstellte Erfahrungswert zu bedenken, dass Ärztinnen und Ärzte bei einem Handeln im beruflichen Zusammenhang regelmäßig mit dem Ziel der Rettung und nicht der Tötung ihrer Patienten handeln. Angesichts der psychologischen Folgen eines Todeseintritts, die bei aller Professionalität im Fall gescheiterter beruflicher Rettungsbemühungen nahe liegen, bedarf es insoweit erheblicher belastender Indizien, um bei der gefahrgeneigten Tätigkeit der Ärzte den Vorsatz belegen zu können. Abstrahierende generalpräventive Überlegungen, gerade durch eine strenge Zuschreibung des Vorsatzes besonders effektiv auf die Beachtung medizinischer Sorgfaltsstandards hinzuwirken, verbieten sich schon deshalb, weil sich die Vorsatzprüfung auf die subjektive psychische Situationsverarbeitung und -beurteilung des individuellen Akteurs richtet.[13]
47
In diesem Sinne hat der BGH zum Beispiel im folgenden Fall auf einer vorsichtigen Prüfung des Tötungsvorsatzes bestanden:[14]
Der im Fach Unfallchirurgie habilitierte Angeklagte betrieb als ambulant praktizierender Chirurg eine Tagesklinik in Berlin. Am 30. März 2006 unterzog sich die 49 Jahre alte gesunde Sch. bei dem Angeklagten von 9.00 Uhr bis 12.30 Uhr einer Bauchdeckenstraffung, verbunden mit einer Fettabsaugung, Entfernung einer Blinddarmoperationsnarbe und Versetzung des Bauchnabels. Für die Operation und das schmerzausschaltende Verfahren hatte sie am 22. März 2006 schriftlich ihr Einverständnis erklärt. Der Angeklagte sicherte Frau Sch. der Wahrheit zuwider zu, dass am Tag der Operation ein Anästhesist zugegen sein werde. Auf ihre in Anwesenheit ihres Ehemanns vor Beginn des Eingriffs gestellte Frage, wo der Anästhesist sei, antwortete eine der Arzthelferinnen, „dass dies der Doktor gleich mache“. Gegen 8.00 Uhr erhielt die Patientin Beruhigungsmittel und wurde im Operationssaal an Überwachungsgeräte angeschlossen, mittels derer die Frequenz des Herzschlags, der Erregungsablauf des Herzens, der Blutdruck und die Sättigung des Bluts mit Sauerstoff gemessen wurden. Eine Blutgasmessung, mit der die Sauerstoffversorgung des Gehirns zu bestimmen ist, erfolgte dabei nicht. 20 Minuten vor Beginn der Operation wurde die Narkose eingeleitet und kurz darauf vom Angeklagten eine Periduralanästhesie gesetzt. Gegen 9.00 Uhr füllte der Angeklagte die Bauchareale der Patientin, aus denen Fett abgesaugt werden sollte, mit einer Tumeszenzlösung.
Beim Schließen der Wunde gegen 12.30 Uhr kam es bei der Patientin zu einem Herz-Kreislauf-Stillstand. Der Angeklagte reanimierte mittels einer Herzdruckmassage. Währenddessen erbrach die Patientin. Nach Säuberung des Mund- und Rachenraums fuhr der Angeklagte mit der Massage fort. Zum Offenhalten der Atemwege setzte er einen Guedel-Tubus ein, der nicht vor Aspiration schützt. Er verabreichte Sauerstoff mittels einer Maske und führte Adrenalin und andere Medikamente zu. Gegen 13.00 Uhr befand sich die Herzfrequenz wieder im Normbereich bei zwischen 12.20 Uhr bis noch 13.20 Uhr stark abgesenktem Blutdruck. Die Patientin atmete spontan und erhielt Infusionen und blutdrucksteigernde Medikamente. Bei Dienstende der Arzthelferin R. gegen 14.30 Uhr waren die »Vitalwerte« wieder im Normbereich, der äußere Zustand der Patientin indes unverändert. Die Patientin erlangte auch nach Abklingen der Wirkung der Narkosemittel ihr Bewusstsein nicht wieder.
Der Angeklagte führte seine Sprechstunde weiter und sah in regelmäßigen Abständen nach der Patientin. Er ließ deren Ehemann gegen 15.00 Uhr der Wahrheit zuwider ausrichten, dass seine Frau aufgewacht und alles in Ordnung sei. Sie schlafe jedoch immer wieder ein, weshalb er nicht mit ihr sprechen könne. Gegen 18.00 Uhr erklärte der Angeklagte dem Nebenkläger erneut, mit seiner Frau sei alles in Ordnung, er wolle sie aber über Nacht in ein Krankenhaus bringen, da sie immer wieder einschlafe. Gleiches bekundete er gegen 18.30 Uhr gegenüber einer Ärztin des S. Krankenhauses, als er anfragte, ob ein Bett auf der Intensivstation zur Verfügung stehe. Der Angeklagte bestellte gegen 19.10 Uhr einen Krankentransportwagen ohne intensivmedizinische Ausrüstung, der um 19.45 Uhr eintraf. Die Transportsanitäter erkannten sofort den Ernst der Lage der Patientin und bemerkten anhand ihrer lockeren Extremitäten, ihrer Hautfärbung und der Schweißbildung, dass sie Sauerstoff benötige. Der Angeklagte widersetzte sich zunächst der Absicht eines Rettungssanitäters, mit Blaulicht und Martinshorn zum Krankenhaus zu fahren. Letzterer bestand nach lautstark und erregt geführter Diskussion darauf.
Der Angeklagte verschwieg bei der Einlieferung der komatösen Patientin auf der Intensivstation gegen 20.00 Uhr den eingetretenen Herzstillstand mit nachfolgender Reanimation und die Aspiration der Patientin. Er übergab keine Krankenunterlagen und teilte die verabreichten Medikamente nicht mit. Er war später über die hinterlassene Mobilfunktelefonnummer für die Ärzte des Krankenhauses nicht erreichbar. Erst am 3. April 2006 händigte er dem Nebenkläger, der mit der Einschaltung der Polizei gedroht hatte, eine Kopie des Operationsberichts und des Narkoseprotokolls aus. Sch. verstarb am 12. April 2006 im Krankenhaus an den Folgen einer globalen Hirnsubstanzerweichung, ohne das Bewusstsein zuvor wiedererlangt zu haben.
Die Vornahme der komplexen mehrstündigen Operation ohne Hinzuziehung eines Anästhesisten entsprach nicht dem ärztlichen Standard: Die Betäubung durch eine Periduralanästhesie in Verbindung mit der Verabreichung einer Tumeszenzlösung sowie zentral wirkender Opiate stellt sowohl in ihren Einzelkomponenten, aber besonders in ihrer Kombination ein mit bekannten Risiken behaftetes Verfahren dar, das zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Vitalfunktionen des Patienten führt. Eine gebotene Überwachung durch einen Anästhesisten hätte die Chancen einer früheren Diagnose des lebensbedrohlichen Zustands und einer folgenden adäquaten Therapie deutlich verbessert.
Der