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Anders ist es auch hier wieder, wenn der Schock zu einer zielgerichteten, sei es auch automatisierten Reaktion führt. Einen solchen Fall hat das OLG Frankfurt[82] entschieden: Eine mit 90 km/h fahrende Frau sah nachts auf der Autobahn plötzlich in 10–15 m Entfernung ein Tier von der Größe eines Hasen vor sich, zog den Wagen erschreckt nach links und prallte gegen die Leitplanke, wobei die Beifahrerin getötet wurde. Auch wenn man davon ausgeht, dass Ausweichmanöver als automatisierte Reaktionen weitgehend unbewusst verlaufen, so dass ein Willensentschluss zweifelhaft sein mag,[83] haben wir doch eine Persönlichkeitsäußerung und damit eine Handlung vor uns. Denn auch erlernte Handlungsdispositionen gehören zum Gefüge der Persönlichkeit. Ihre Auslösung ist deren Äußerung, unabhängig davon, ob sie in bestimmten Situationen zu nützlichen oder schädlichen Folgen führt.[84]
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Zu den Handlungen gehören auch Affektreaktionen.[85] Das OLG Hamburg[86] hat sich mit einem Fall befasst, in dem der Täter einer Frau ein Kostüm anprobieren sollte. Dabei wurde ihre Brust entblößt, die er daraufhin mit Küssen bedeckte und durch einen Biss verletzte. Hier haben sich mehrere Instanzen mit der Frage beschäftigt, „dass es sich bei dem Biss möglicherweise nicht um eine Handlung, sondern um ein rein reflexartiges, nicht mehr bewusstes Tun gehandelt haben könnte“.
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Man wird hier eher von einer triebhaften Affektreaktion sprechen müssen. Solche Taten beruhen kaum auf bewusster Überlegung. Das schließt aber ihre Handlungsqualität nicht aus, weil Verhaltensweisen, die der Triebbefriedigung oder, wie oft bei Tötungen in rasender Wut, der Aggressionsentladung dienen, auf eine Rechtsgutsverletzung gerichtet, also Persönlichkeitsäußerungen und keine blinden Kausalprozesse sind. Die Problematik der Affekttaten liegt im Schuld-, nicht im Handlungsbereich.
VI. Besitzdelikte
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Strittig ist auch, ob der Gesetzgeber befugt ist, den Besitz bestimmter Gegenstände unter Strafe zu stellen, wie es in Deutschland beim Besitz kinder- und jugendpornografischer Schriften (§§ 184b, 184c StGB), beim Waffenbesitz (§ 51 Abs. 1 WaffG) und beim Besitz von Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 Nr. 3 BtMG) der Fall ist.[87] Den Besitzdelikten wird von einigen Autoren die Handlungsqualität mit der Begründung abgesprochen, dass „Handlung“ nur ein Tun oder Unterlassen sein könne, nicht aber ein bloßer Zustand wie der Besitz.
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Das BVerfG hat die Verfassungsmäßigkeit von Besitzdelikten jedoch anerkannt.[88] Dem ist zuzustimmen. Zwar ist es kaum möglich, der Handlungsqualität der Besitzdelikte mit Kriterien wie denen einer willkürlichen Verursachung von Veränderungen in der Außenwelt oder gar der Finalität gerecht zu werden. Doch kann kein Zweifel bestehen, dass die bewusste Innehabung bestimmter Gegenstände eine Persönlichkeitsäußerung ist. Wenn jemand viele Bücher besitzt, ist dies ein Ausdruck seiner Persönlichkeit. Für den Besitz bestimmter pornografischer Schriften oder von Drogen gilt dies erst recht. Man kann über die Strafwürdigkeit dieses Besitzes in manchen Fällen streiten. Am Fehlen der Handlungsqualität scheitert die Strafbarkeit aber jedenfalls nicht.
6. Abschnitt: Die Straftat › § 28 Handlung › E. Fazit
E. Fazit
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Der Begriff der Handlung ist als Persönlichkeitsäußerung zu verstehen. Er hat – entgegen den Prämissen der kausalen und der finalen Handlungslehre – keine Bedeutung für den Aufbau des Strafrechtssystems. Doch dient er als gemeinsamer Oberbegriff und Anknüpfungspunkt für alle Erscheinungsformen strafrechtlich relevanten Verhaltens. Er ist den strafrechtlichen Bewertungskategorien (Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld und Verantwortlichkeit) grundsätzlich vorgelagert, verbindet sie aber, indem er auf jeder Deliktsstufe durch zusätzliche Wertprädikate bereichert wird. Nur in Sonderfällen macht erst ein gesetzliches Gebot ein Untätigbleiben zur Handlung. Der Begriff der Persönlichkeitsäußerung wird dem Sinngehalt strafrechtsrelevanten Verhaltens durch seine normative Struktur besser gerecht als rein deskriptive ontische Kriterien.
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Der Handlungsbegriff erfüllt neben der Anknüpfungsfunktion auch eine Filterfunktion, indem er Nichthandlungen von vornherein aus der strafrechtlichen Prüfung ausschließt. Auch insoweit ermöglicht das Kriterium der Persönlichkeitsäußerung präzisere Ergebnisse als andere Handlungsbegriffe.
6. Abschnitt: Die Straftat › § 28 Handlung › Ausgewählte Literatur
Ausgewählte Literatur
Behrendt, Hans-Joachim | Die Unterlassung im Strafrecht. Entwurf eines negativen Handlungsbegriffs auf psychoanalytischer Grundlage, 1979. |
Behrendt, Hans-Joachim | Das Prinzip der Vermeidbarkeit im Strafrecht, FS Jescheck, S. 303 ff. |
v. Beling, Ernst | Die Lehre vom Verbrechen, 1906. |
v. Bubnoff, Hans-Jürgen | Die Entwicklung des strafrechtlichen Handlungsbegriffes von Feuerbach bis Liszt unter besonderer Berücksichtigung der Hegelschule, 1966. |
Engisch, Karl | Vom Weltbild des Juristen, 2. Aufl. 1965. |
Gimbernat, Enrique | Beiträge zur Strafrechtswissenschaft. Handlung, Kausalität, Unterlassung, 2013. |
Heinrich, Manfred | Rechtsgutszugriff und Entscheidungsträgerschaft, 2002. |
Herzberg, Rolf Dietrich | Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, 1972. |
Jakobs, Günther | Der strafrechtliche Handlungsbegriff, 1992. |
Jakobs, Günther | Vermeidbares Verhalten und Strafrechtssystem, FS Welzel, S. 307 ff. |
Kahrs, Hans Jürgen | Das Vermeidbarkeitsprinzip und die conditio-sine-qua-non-Formel im Strafrecht, 1968. |
Kaufmann, Arthur | Die ontologische Struktur der Handlung, Skizze einer personalen Handlungslehre, FS Mayer, S. 79 ff. |
Krümpelmann, Justus | Motivation und Handlung im Affekt, FS Welzel, S. 327 ff. |
Maihofer, Werner | Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem, 1953. |
Maihofer, Werner |
Der soziale Handlungsbegriff, FS Eb.
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