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Mit den Interpretationsspielräumen, die fast jede Strafnorm enthält, wurde bereits eine weitere wichtige Schnittstelle zwischen Recht und Moral benannt. Entscheidungsspielräume, die sich bei der Auslegung von Normen ergeben, kann der Rechtsanwender durch Eigenwertungen ausfüllen.[79] Dabei wird er sich zum einen an bereits vorhandener Judikatur, zum anderen aber an der Sozialmoral orientieren.
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Eine weitere Einbruchstelle moralischer Normen und Wertungen stellen gesetzliche Verweisungen wie § 228 StGB dar, wo ausdrücklich auf die „guten Sitten“ Bezug genommen wird. Damit wird nicht auf überpositive Moral verwiesen, aber auch nicht auf die Privatmoral des jeweiligen Rechtsanwenders. Der Verweis auf die „guten Sitten“ bedeutet vielmehr, dass der Rechtsanwender die jeweilige Sozialmoral[80] als Maßstab verwenden soll. Problematisch ist allerdings, dass der Rechtsanwender in aller Regel weder die Zeit noch die Möglichkeit besitzt, um empirische Untersuchungen vorzunehmen. Zumeist wird der Inhalt der „guten Sitten“ dem sozialen Umfeld des Rechtsanwenders und seinem eigenen „Vorverständnis“[81] entnommen sein. Da Rechtsanwender heute im Wesentlichen die Einstellungen der vorherrschenden öffentlichen Meinung teilen dürften, überrascht es nicht, dass sich in der inhaltlichen Ausfüllung der „guten Sitten“ gegenüber den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Liberalisierung vollzogen hat, die bis in die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes[82] hineinreicht.
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Darüber hinaus erfordern viele Rechtsbegriffe für ihr Verständnis den Rückgriff auf Sitte und Moral. Dies gilt etwa für den – außerordentlich vielschichtigen – Begriff der Ehre. Ehre besitzt, wer die in einer sozialen Gemeinschaft geltenden Normen der Sitte und der Moral einhält.[83] Darüber hinaus gibt es traditionell gruppenspezifische Ehrenkodizes, etwa für Adelige, für Soldaten oder für Handwerker. Aus der Ehre folgt ein bestimmter Achtungsanspruch, gerichtet auf die Einhaltung bestimmter, den Ehrträger betreffende Verhaltensregeln durch andere.[84] Das Konzept „Ehre“ ist also sowohl mit Hinblick auf die Voraussetzung der Zuschreibung von „Ehre“ als auch im Hinblick auf die Folgen dieser Zuschreibung aufs engste mit bestimmten sozialen Normen verbunden.
IV. Zur „sittenbildenden Kraft“ des Strafrechts
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Ein früher vieldiskutiertes Problem besteht darin, ob bzw. inwieweit durch die Setzung von Strafrecht die Moral beeinflusst werden kann bzw. ob die Abschaffung oder verminderte Durchsetzung strafrechtlicher Bestimmungen Auswirkungen auf die Sozialmoral hat.[85] Noch in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war bei manchen Autoren das Vertrauen in die „sittenbildende Kraft“ des Strafrechts enorm:
„Das Hauptverdienst der Strafe liegt in ihrer sittenbildenden Kraft. Sie ist das wirksamste Mittel, mit welcher der Gemeinschaftswille die soziale Wertwelt formt und festigt, neue Werte einprägt und alte im Gedächtnis erhält. Das Strafrecht predigt die sittlich-rechtlichen Grundsätze mit demjenigen Mittel, das zu allen Zeiten besonders eindrucksvoll war, mit der Macht.“[86]
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Empirisch dürfte die These von der sittenbildenden Kraft des Strafrechts allerdings kaum zu belegen sein.[87] Immerhin wird man sagen können, dass beispielsweise der Erlass des Embryonenschutzgesetzes im Jahr 1990[88] die Überzeugung von der Schutzwürdigkeit von Embryonen möglicherweise verstärkt hat; zumindest wurde den Befürwortern eines hohen Schutzniveaus ein zusätzliches Argument in die Hand gegeben. Dasselbe gilt möglicherweise für die Pönalisierung der geschäftsmäßigen Beihilfe zum Suizid (§ 217 StGB) im Jahr 2015.[89] Umgekehrt scheinen aber Tendenzen zur Entkriminalisierung selbst in moralisch besonders relevanten Kontexten nicht dazu zu führen, dass die Sozialmoral sich spürbar ändert, weil hier in der Regel (s.o. Rn. 29 f.) das Recht Entwicklungen nachvollzieht, die in der Sozialmoral bereits stattgefunden haben. Beispiele sind etwa die Entkriminalisierung des Suizids im 18. und frühen 19. Jahrhundert,[90] die Entkriminalisierung des Ehebruchs,[91] der Homosexualität unter Männern,[92] der Pornographie[93] oder des Schwangerschaftsabbruchs.[94] Ein aktuelles Beispiel für eine Liberalisierung aus dem Familienrecht ist etwa die Einführung einer „Ehe für alle“.[95]
V. Radbruchs Formel
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Umstritten ist, ob die Einhaltung bestimmter moralischer Standards als Geltungsbedingung für Recht verwendet werden kann oder sollte. Der bekannteste Vorschlag dazu stammt von dem Rechtsphilosophen, Strafrechtswissenschaftler und Rechtspolitiker Gustav Radbruch (1878–1949). Rechtsnormen, die in einem ordnungsgemäßen Verfahren zustande gekommen sind, sollen grundsätzlich auch dann gelten, wenn sie dem Rechtsanwender als moralisch bedenklich oder sogar unmoralisch erscheinen. Radbruch schlägt aber vor, von diesem Grundsatz bei extrem unmoralischen und geradezu „unerträglichen“ Rechtsnormen eine Ausnahme zu machen. Er verdeutlicht dies an der Frage nach der rechtlichen Relevanz nationalsozialistischer Rechtssetzung:
„Wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ,unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen. An diesem Maßstab gemessen sind ganze Partien nationalsozialistischen Rechts niemals zur Würde geltenden Rechts gelangt.“[96]
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Die deutsche Rechtsprechung hat Radbruchs Formel zunächst im Zusammenhang mit der Bewältigung der durch NS-Recht gestützten Verbrechen während des „Dritten Reiches“ und zum zweiten Mal im Rahmen der „Mauerschützen-Prozesse“ gegen Grenzposten der DDR eingesetzt.[97] In der Rechtsphilosophie und Strafrechtswissenschaft ist diese Rechtsprechung auf Kritik gestoßen.[98] Zum einen ist ihre Vereinbarkeit mit dem Rückwirkungsverbot zweifelhaft, zum anderen ist unklar, wie sich der Bereich des „extrem ungerechten“ positiven Rechts präziser umschreiben lässt. Radbruchs Formulierung, es sei darauf abzustellen, dass „Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt“ und „Gleichheit … bewusst verleugnet“ wurde, hilft kaum weiter, da sich gerade die nach üblichem Verständnis verbrecherischsten Machthaber in aller Regel auf eine Ideologie stützen, die ihre Gesetze als „gerecht“ legitimiert. Die nationalsozialistische Weltanschauung und Rassenlehre enthält hierfür viele Beispiele.[99] Auch der Kreis der „Gleichheit“ lässt sich bei hinreichender Differenzierungsfähigkeit und Formulierungskunst leicht so bestimmen, dass er alle gesetzlichen Diskriminierungen abzubilden vermag.[100] Damit entsteht die Gefahr erheblicher Willkür auf Seiten der Rechtsanwender:
„Es besteht keinerlei Garantie oder auch nur Wahrscheinlichkeit dafür, dass jene Moral, die der betreffende Richter oder Bürger in seinen Rechtsbegriff aufnimmt, tatsächlich eine ‚aufgeklärte‘ Moral ist! [. . .] In der Regel wird der Betreffende seinem moralbehafteten Rechtsbegriff seine eigenen moralischen Vorstellungen zugrunde legen. Es spricht jedoch im Allgemeinen nichts dafür, dass die moralischen Vorstellungen eines Individuums oder irgendeiner bestimmten Gesellschaft in irgendeinem Sinn aufgeklärter (etwa ‚humaner‘ oder ‚gerechter‘) sind als die positiven Rechtsnormen des entsprechenden Staates. Man vergleiche beispielsweise die Einstellung unserer Bevölkerung und die Normierung unseres Grundgesetzes