1. Gesetzliche Bestimmungen
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Erst mit dem 5. BVerfGGÄndG erfuhren die Vorschriften der §§ 93a ff. BVerfGG im Jahr 1993 – und damit schon unter dem Druck des stetig gestiegenen Geschäftsanfalls – ihre heutige Ausprägung.[8] Demnach bedarf die Verfassungsbeschwerde der Annahme zur Entscheidung (§ 93a Abs. 1 BVerfGG). Das Annahmeverfahren ist ein der eigentlichen Prüfung vorgeschaltetes Verfahren, durch das vor allem Eingaben ohne verfassungsrechtliche Substanz von vornherein ausgeschieden werden und eine Entlastung des Gerichts erreicht werden sollen. Es sollen dadurch Ressourcen für seine eigentliche Aufgabe – die Entscheidung grundsätzlicher Verfassungsfragen, und, wo nötig, die Durchsetzung der Grundrechte des Einzelnen –[9] geschaffen werden. Das Gericht soll deshalb im Rahmen des Annahmeverfahrens über die Sachentscheidungsvoraussetzungen grundsätzlich ohne weitere Ermittlungen befinden können. Gemäß § 93b BVerfGG können die Kammern die Annahme der Verfassungsbeschwerde ablehnen; nach § 93c BVerfGG können die Kammern einer Verfassungsbeschwerde aber auch stattgeben, wenn sie offensichtliche begründet ist, die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG vorliegen und die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgebliche verfassungsrechtliche Frage durch das Gericht bereits entschieden wurde. Der Beschluss steht dann einer Entscheidung eines Senats gleich. Die Vorschrift räumt den Kammern also in bestimmten Fällen sogar eine Sachentscheidungskompetenz ein und geht insoweit über die Befugnisse im Rahmen des Annahmeverfahrens hinaus.
2. Kammerzuständigkeit und Überblick über den Verfahrensablauf
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In der täglichen Praxis ist die Frage der Annahme einer Verfassungsbeschwerde aus dem Bereich des Strafrechts weitgehend der Entscheidung der für die jeweilige Materie (materielles Strafrecht, Strafverfahrensrecht der Hauptverhandlung, strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, Strafvollzug, das „kleine Strafrecht“ der OLG-Revisionen usw.) geschäftsverteilungsmäßig zuständigen Kammer überantwortet.[10] Das Gericht widmet dem Straf- und Strafverfahrensrecht auch dadurch besondere Aufmerksamkeit, dass die Zuständigkeit für zentrale Sachbereiche in einem Dezernat des Zweiten Senats zusammengefasst ist.[11] Jede Kammer setzt sich aus drei Richtern zusammen. Nach Eingang der Sache machen die Präsidialräte einen Vorschlag für die Zuständigkeit bei der Berichterstattung, der in der Regel vom Senatsvorsitzenden auch so zugeteilt wird (§ 20 Abs. 2 GOBverfG). Der damit zuständige Berichterstatter weist das Verfahren nach Eingang und Eintragung dann wiederum regelmäßig einem seiner Wissenschaftlichen Mitarbeiter zu.[12] Die interne Zuweisung hängt von den Usancen im jeweiligen Dezernat ab und wird häufig zumindest bei senatsträchtigen Verfahren nach einer Art „flexibler Turnus“ unter Berücksichtigung etwa vorhandenen bzw. vermuteten Spezialistentums und der Belastungssituation im Übrigen geleistet; einen Anspruch des Beschwerdeführers auf den „gesetzlichen HiWi“ gibt es nicht. Von dem Wissenschaftlichen Mitarbeiter wird auf Basis der jeweiligen Kammerspruchpraxis sodann – und nach den vom Berichterstatter proaktiv vorgegebenen[13] oder jedenfalls akzeptierten Prioritäten – ein schriftliches Votum mit Entscheidungsvorschlag erstellt. Der Einfluss des „HiWis“ auf die Geschicke des Tagesgeschäfts der kleineren und mittleren Kammerverfahren ist also eher hoch anzusetzen. Er nimmt jedoch mit zunehmender Senatsträchtigkeit des Verfahrens im Mittel deutlich ab.[14] Dies hat für das Recht der Verfassungsbeschwerde faktisch zu einer „Vorherrschaft der Kammern“ und einer – mit Recht kritisierten –[15] Sub-Atomisierung der (Zulässigkeits-)Rechtsprechung selbst auf Ebene der Senate geführt. Zudem wird dem Beschwerdeführer nicht bekannt gegeben, wer im Verfahren Berichterstatter ist – er muss also von sich aus aktiv werden und bei den Präsidialräten nachfragen. Sogar im statistisch seltenen Fall der Abgabe an den Senat erfährt der Beschwerdeführer davon (erst einmal) nichts.[16]
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Darüber hinaus müssen gem. § 93d Abs. 1 S. 2 BVerfGG die Entscheidungen der Kammern nicht begründet werden. Es besteht deshalb die Gefahr, dass bisweilen besonders strenge Zulässigkeitsvoraussetzungen aufgestellt werden, um die Verfassungsbeschwerde daran scheitern zu lassen. Für die Beschwerdeführer, die das Votum des Wissenschaftlichen Mitarbeiters natürlich nicht einsehen können (§ 34 GOBVerfG), ist dies nicht erkennbar.
3. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde als Annahmevoraussetzung
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Um praktisch wirksam zu werden, bedürfen die verfassungsrechtlichen Bindungen der Staatsgewalt (Art. 1 Abs. 3 GG) einer prozessualen Sicherung.[17] Nach § 93a Abs. 2 BVerfGG ist eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen, soweit ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt oder wenn es zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist.
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Allein nach dem Wortlaut des § 93a Abs. 2 BVerfGG kommt es für die Entscheidung über die Annahme damit eigentlich nicht auf die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde an. Es entspricht jedoch der überwiegenden Meinung und st. Rspr. des Gerichts,[18] unzulässige Verfassungsbeschwerden nicht erst zur Entscheidung anzunehmen. Dies hat zum einen arbeitsökonomische Gründe. Zum anderen soll von einer offensichtlich unzulässigen Verfassungsbeschwerde auch keine Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage zu erwarten sein.
a) Grundsatzverfassungsbeschwerde (§ 93a Abs. 2 lit. a BVerfGG)
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Von der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedeutung einer Verfassungsbeschwerde kann nur dann gesprochen werden, wenn sie eine genuin verfassungsrechtliche Frage aufwirft, die sich nicht ohne weiteres aus dem Grundgesetz beantworten lässt und noch nicht durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung geklärt oder die durch veränderte Verhältnisse erneut klärungsbedürftig geworden ist. Über die zutreffende Beantwortung der verfassungsrechtlichen Frage müssen also ernsthafte Zweifel bestehen. Besonders aussagekräftig sind diese Maßstäbe freilich noch nicht: Welche Rechtsfrage, abgesehen vielleicht vom Sitz der Bundeshauptstadt und den Farben der Bundesflagge, lässt sich schon direkt aus dem Text des Bonner Grundgesetzes beantworten?[19] Und welche verfassungsrechtliche Fragestellung von einiger Erheblichkeit ist in der fachwissenschaftlichen Debatte nicht ernsthaft umstritten? Anhaltspunkt für eine grundsätzliche Bedeutung in diesem Sinne kann es daher tatsächlich sein, dass die Frage in der Fachliteratur kontrovers diskutiert oder in der Rechtsprechung der Fachgerichte unterschiedlich beantwortet wird.
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Hinweis
Will man dies in der Beschwerdeschrift nachvollziehbar begründen, bedarf es einer – in der Monatsfrist allerdings nur schwer zu leistenden – intensiven Auseinandersetzung mit dem oder z. B. der Auswirkung einer Gesetzesänderung auf den Streitstand,[20] nötigenfalls unter Heranziehung eines fachwissenschaftlich besonders ausgewiesenen Gutachters (z. B. Hochschullehrer, Richter am Bundesverfassungs- oder Landesverfassungsgericht im Ruhestand usw.).
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