b) Das strafrechtliche Krisenmerkmal der drohenden Zahlungsunfähigkeit
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Bei der drohenden Zahlungsunfähigkeit handelt es sich um ein besonderes strafrechtliches Krisenmerkmal, da der insolvenzrechtliche Begriff eine erkennbar andere Funktion als das gleichlautende strafrechtliche Krisenmerkmal besitzt.[148] So eröffnet § 18 InsO dem Schuldner die Möglichkeit, Maßnahmen unabhängig von Dritten noch im Vorfeld einer sich entwickelnden Krise zu ergreifen.[149] Das strafrechtliche Krisenmerkmal setzt dem Schuldner dagegen insofern Grenzen, als es den zeitlichen Anwendungsbereich der §§ 283 ff. StGB deutlich vorverlagert; eine Korrektur erfährt die Strafbarkeit wegen eines Bankrottdeliktes bei drohender Zahlungsunfähigkeit aber über die objektive Strafbarkeitsbedingung des § 283 Abs. 6 StGB.[150]
Bei der Prognoseerstellung ist, wie bei der eingetretenen Zahlungsunfähigkeit auch, der Grundsatz „in dubio pro reo“ zu berücksichtigen. Zur Sicherstellung eines handhabbaren Prognosezeitraumes, der außerdem den Anforderungen einer hinreichenden Bestimmtheit Rechnung zu tragen in der Lage ist, ist strafrechtlich auf einen Prognosezeitraum von einem Jahr abzustellen.[151]
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Die drohende oder eingetretene Zahlungsunfähigkeit ist in sehr viel stärkerem Maße als die Überschuldung für die Betrugsstrafbarkeit von Bedeutung. Bereits bei Zahlungsstockung kann ein Betrug vorliegen, wenn die Bestellungen mit kürzeren Zahlungszielen verbunden sind. Wenn die Liquidität nach Kaufpreisfälligkeit wiederhergestellt werden kann, beseitigt dies zwar die Tatbestandselemente der drohenden oder eingetretenen Zahlungsunfähigkeit im Insolvenzstrafrecht, nicht aber den durch den Betrug bereits erlittenen Schaden des Verkäufers, dessen Anspruch auf Bezahlung in der vereinbarten Frist nicht erfüllt werden konnte.
Nicht übersehen werden sollte auch, dass die drohende Zahlungsunfähigkeit keine Bedeutung für den Straftatbestand der Insolvenzverschleppung nach § 15a InsO hat, auch wenn die drohende Zahlungsunfähigkeit nach der InsO einen Eröffnungsgrund darstellt. So besteht in diesen Fällen gem. § 18 InsO zwar ein Insolvenzantragsrecht für den Schuldner, jedoch keine entsprechende Antragspflicht.[152]
5. Keine strikte Insolvenzrechtsakzessorietät der Krisenbegriffe des § 283 StGB
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Im Ergebnis wird klar, dass eine einheitliche straf- und insolvenzrechtliche Interpretation der Krisenmerkmale, zumindest im Sinne einer strikten Insolvenzrechtsakzessorietät,[153] zu verneinen ist.[154] Hierfür sprechen Erwägungen, die sich aus der Struktur sowie aus den Zielen des Insolvenzverfahrens im Vergleich mit dem Strafrecht ergeben.[155] So schützt das Strafrecht weder das gesamte Insolvenzverfahren mit allen Regelungseffekten, noch sind die jeweiligen Funktionen der Rechtsbegriffe identisch.[156] Schließlich darf nach § 16 InsO nur in den Fällen ein Insolvenzverfahren eröffnet werden, in denen einer der in den §§ 17–19 InsO beschriebenen Eröffnungsgründe gegeben ist. Zwar knüpfen abgestuft auch die §§ 283 ff. StGB an diese Begriffe an, jedoch offenbaren sich bei genauerer Betrachtung Unterschiede: Während die §§ 283, 283c StGB bezüglich des Schuldners nicht differenzieren, unterscheiden die §§ 17–19 InsO sowohl bezüglich des persönlichen Anwendungsbereichs als auch hinsichtlich der Antragsbefugnis. Zudem soll die zivilrechtliche Eröffnung des Insolvenzverfahrens – anders als die Bewertung im Strafrecht – nicht als Makel, sondern als Chance für das Unternehmen verstanden werden. Eine strikt zivilrechtsakzessorische Interpretation der strafrechtlichen Krisenmerkmale liefe Gefahr, die aufgezeigten strukturellen und zielgebundenen Unterschiede zu vernachlässigen. Deshalb haben die §§ 17–19 InsO nur eine indizielle und keine bindende Wirkung für die strafrechtliche Auslegung und das Verständnis der §§ 283 ff. StGB.[157] Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber trotz oder gerade wegen der unterschiedlichen Ziele der Insolvenzreform eine Anschlusserneuerung der §§ 283 ff. StGB nicht für erforderlich gehalten hat.[158] Schließlich ist den spezifisch strafrechtlichen Anforderungen Rechnung zu tragen, so dass von einer funktionalen Akzessorietät gesprochen werden kann.[159] Dies hat den Vorteil, dass differenzierende, strafrechtsbezogene Lösungen gefunden werden können.[160]
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Das ermittelte Ergebnis lässt sich am Beispiel der Überschuldung verdeutlichen. Trotz der in § 19 Abs. 2 InsO ausdrücklich normierten insolvenzrechtlichen Definition des Begriffs war mit Einführung der InsO für die strafrechtliche Anwendung ungeklärt, ob die Bewertung der Vermögenspositionen anhand einer Fortführungs- oder einer Zerschlagungshypothese zu erfolgen hatte.[161] Vor dem Inkrafttreten der Insolvenzordnung am 1.1.1999 wurden teilweise die Fortführungswerte berücksichtigt. Argumentiert wurde, das reine „Going-concern-Prinzip“ ergebe sich zwingend aus dem In-dubio-Grundsatz. Von den Vertretern der gegenläufigen Ansicht wurde Realitätsferne moniert. So entspreche es in der Praxis eher der Ausnahme, dass ein insolvenzreifes Unternehmen weitergeführt werden könne. Daher schlug die Gegenansicht ein dynamisch-zweistufiges Modell, bei dem die vermögensrechtliche Bewertung entweder auf der Basis von Fortführungs- oder von Liquidationswerten vorgenommen werden sollte,[162] alternativ ein modifiziertes zweistufiges Prüfungsmodell vor.[163] Die bis zum 17.10.2008 geltende Fassung des § 19 InsO zielte auf eine frühzeitige Eröffnung des Insolvenzverfahrens ab, wohingegen § 283 StGB eine Situation beschreibt, in der sich ein Schuldner durch bestimmte Handlungen strafbar macht, die entweder wirtschaftlich sinnlos oder zumindest gefährlich sind. Dieser Unterschied ist durch heute geltende Fassung des § 19 Abs. 2 InsO nivelliert, da durch den möglichen Ausschluss einer Überschuldung allein durch die positive Fortführungsprognose der Antragsgrund der Überschuldung durch das FMStG in seinem Anwendungsbereich sehr eingeschränkt wurde.[164] Letztlich geht es um die Abgrenzung von strafwürdigem zu solchem Verhalten, das gar kein strafwürdiges Unrecht darstellt.[165] Da es methodologisch um einen Fall der Relativität der Rechtsbegriffe geht[166], steht diesem Ansatz auch das Postulat der Einheit der Rechtsordnung nicht entgegen.[167]
Teil 1 Grundfragen des Insolvenz- und Insolvenzstrafrechts › D. Grundbegriffe der Insolvenz › II. Umfeldbedingungen
1. Markteinflüsse, Unternehmensfinanzierung, Sozialstruktur
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Nicht nur die abstrakten Insolvenzgründe der InsO gilt es bei der Ursachenfindung für Insolvenzanmeldungen zu bedenken. Weit über bilanzielle Fragen hinaus haben für die Unternehmensfortführung, für eine Sanierung oder eine Abwicklung Kriterien eine Bedeutung, die sich nur mittel- oder langfristig, durch politische und gesellschaftliche Maßnahmen, aber selten durch Strafrecht beeinflussen lassen:
• | die Art und Weise der Finanzierung des Unternehmens durch Eigen- oder Fremdkapital, |