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Was die Übertragung der 3-Wochen-Frist zur Bestimmung der Zahlungsunfähigkeit angeht, so besteht für die strikte Anwendung fristgebundener Berechnungen nach § 17 Abs. 2 InsO in der Tat kein strafrechtliches Bedürfnis.[94] Die oben dargestellte insolvenzrechtliche Rechtsprechung mag zwar einem der gesetzlichen Zwecke der InsO, eine größtmögliche Massesicherung zu erreichen, folgen,[95] lässt aber zahlreiche kleinere und mittelgroße Handwerksunternehmen, Dienstleister für die öffentliche Hand sowie zahlreiche Unternehmen, die für wenige Großkunden arbeiten, unberücksichtigt, die binnen drei Wochen den Betrieb schließen müssten, obwohl sich über einen Zeitraum eines Jahres eine ausgewogene Zahlungsbilanz ergibt. Dass der Gesetzgeber nicht beabsichtigt hat, solche Unternehmen zu einem Insolvenzantrag (durch zivil- oder strafrechtliche Pflichten) zu zwingen, ergibt sich aus den Verzugsvorschriften der §§ 288, 648a BGB, die ausdrücklich auf die Verbesserung der Zahlungsbilanzen kleinerer und mittlerer Unternehmen zielen. Erst zum 1.7.2007 sind Verfahrenserleichterungen der InsO in Kraft getreten,[96] die ausdrücklich dem Ziel dienen, in einer Insolvenzantragsphase die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinschuldnerin weiterhin zuzulassen. Auch das im Juni 2008 vom Bundestag verabschiedete Gesetz zur Modernisierung der GmbH (MoMiG)[97] zielt darauf ab, dass die Liquiditätssituation und die Ausstattung mit Eigenkapital gerade in Phasen des wirtschaftlichen Rückgangs nicht unmittelbar zur Insolvenz führen müssen.
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Zahlungsunfähigkeit im Sinne der §§ 283 ff. StGB liegt somit nur bei Ermittlung einer wesentlichen Liquiditätslücke vor. Die strafrechtliche Rechtsprechung des BGH und große Teile der Literatur folgen allerdings unter Annahme einer strengen Zivilrechtsakzessorietät[98] der zivilrechtlichen Rechtsprechung.[99] Zu beachten ist hier allerdings, dass der Beweislastregelung beim Kriterium einer zehnprozentigen Liquiditätslücke im Strafrechtprozess keine Geltung zukommen kann und zudem dem Grundsatzes „in dubio pro reo“ bei verbleibenden Zweifeln Rechnung getragen werden muss. [100]
Ein Teil der Literatur steht diesem Ansatz kritisch gegenüber, denn auch die Liquidität eines Unternehmens wird durch modernes Cashpooling, durch Konsignationslager und durch vertragswidriges Gläubigerverhalten u. U. dramatisch beeinflusst, so dass man bei einer schematischen Betrachtung auch für florierende Unternehmen schnell zur Annahme einer Zahlungsunfähigkeit kommen würde. Daher scheint es vertretbar, dass bei strafrechtlicher Betrachtung allenfalls eine Deckungslücke von 25 % wegen der Sonderfaktoren eines Einzelfalls tatbestandsmäßig sein kann.[101] Insgesamt herrscht Uneinigkeit in der Literatur über die Höhe einer tatbestandsmäßigen Deckungslücke.[102] Allerdings ist davon auszugehen, dass ab einer Deckungslücke von 25 % zumindest die Gefahr einer Strafverfolgung besteht.
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Allein die Überschreitung eines Grenzwertes genügt jedoch noch nicht für die Feststellung strafbaren Verhaltens. Vielmehr muss, als zweites Korrektiv, das Liquiditätsproblem von Dauer sein, um vorübergehende Zahlungsstockungen auszuschließen, wobei die Einzelheiten umstritten sind und die Ansichten zwischen Zeitpunktilliquidität[103] und Zeitraumilliquidität von vierzehn Tagen bis zu mehreren Monaten schwanken.[104] Richtigerweise ist auf eine Zeitraumilliquidität abzustellen.[105] Zunächst müssen die Strafverfolgungsbehörden prüfen, ob eine spürbare Besserung der Liquiditätslage in einem absehbareren Zeitraum von 6 Wochen[106] eintreten kann. Teilweise im Zivilrecht vertretene restriktivere Sichtweisen werden im Strafrecht wegen des Erfordernisses forensisch sicher verwertbarer objektiver wie subjektiver Kriterien abgelehnt.[107] In der zivilrechtlichen Rechtsprechung besteht die Tendenz, einen relativ kurzen Zeitraum, der die 3-Wochen-Frist nicht wesentlich übersteigt, anzunehmen.[108] Im Strafrecht dürfen jedenfalls keine höheren Anforderungen als im Zivilrecht gestellt werden. Von einer dauerhaften Zahlungsunfähigkeit kann daher unter Beachtung der Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles in der Regel ausgegangen werden, wenn über den gesamten Zeitraum von der Tathandlung bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine Deckungslücke vorhanden war.[109]
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In der Praxis gibt es mehrere Möglichkeiten zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit nach § 17 Abs. 2 InsO: Zum einen kommt eine betriebswirtschaftlich-mathematische Feststellung[110] in Frage, d. h. eine stichtagsbezogene Gegenüberstellung der fälligen Verbindlichkeiten und der zu deren Befriedigung zur Verfügung stehenden Mittel,[111] also die Erstellung eines sog. stichtagsbezogenen Liquiditätsstatus.[112] Auf dieser Grundlage kann in einem ersten Schritt eruiert werden, ob eine Liquiditätslücke vorliegt. Ist dies der Fall und überschreitet die Deckungslücke die strafrechtlich relevanten 25 %, so kann in einem zweiten Schritt anhand einer sog. Liquiditätsbilanz[113] festgestellt werden, ob der Schuldner in absehbarer Zeit in der Lage sein wird, die fälligen Verbindlichkeiten überwiegend[114] zu bedienen – bejahendenfalls läge keine Überschuldung vor. In der Liquiditätsbilanz werden dafür über die am Stichtag bestehenden Aktiva und Passiva hinaus die innerhalb eines 3-Wochen-Zeitraums fällig werdenden Verbindlichkeiten den vorhandenen und in diesem Zeitraum noch zu erwartenden finanziellen Mitteln gegenüber gestellt.[115] Diese sehr aufwändige Methode kommt allerdings in der Praxis in erster Linie nur dann in Betracht, wenn die Indizienlage keine Feststellung hinsichtlich der Zahlungsunfähigkeit zulässt.[116]
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Eine in der Praxis genutzte, einfachere Möglichkeit zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit besteht darin, vom Zeitpunkt des Insolvenzantrages ausgehend die älteste von der Höhe her maßgebliche offene Forderung zu ermitteln. Wenn diese Forderung über drei Wochen vor der Insolvenzantragsstellung fällig war, wird Zahlungsunfähigkeit angenommen.[117]
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Im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren wird außerdem zunächst regelmäßig versucht, die Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens[118] bereits anhand so genannter wirtschaftskriminalistischer Beweisanzeichen[119] zu bestimmen. Wichtige Indizien für das Vorliegen einer Zahlungsunfähigkeit hat der BGH[120] darin gesehen, dass der Schuldner nicht in der Lage ist, die Sozialversicherungsleistungen, Löhne oder sonst fälligen Verbindlichkeiten binnen 3 Wochen zu bezahlen,[121] wodurch die Einstellung der Zahlungen mangels erforderlicher Geldmittel auch nach außen erkennbar werde, da die Nichtzahlung bei diesen Verbindlichkeiten typischerweise nur deshalb erfolge. Dabei sei zu beachten, dass auch beträchtliche Zahlungen die Zahlungsunfähigkeit nicht ausschließen, wenn sie nicht den wesentlichen Teil der fälligen Verpflichtungen ausmachen.
Als weitere kriminalistische Beweisanzeichen sind zu nennen:
• | Verzicht auf Skonti, Mahnungen, Scheckvordatierungen, Wechselbegebungen und -verlängerungen; |
• | die Suche nach Beteiligungsinteressenten und Kreditgebern; |
• | Wechsel der Hausbank; |
• | Eingänge geschäftlicher Zahlungen auf dem Privatkonto zwecks Verhinderung des Zugriffs von Gläubigern; |
• | Zahlungsrückstände bei betriebsnotwendigen Aufwendungen, insbesondere bei Mieten, Versorgungsleistungen, Telefon, Löhnen, Gehältern, Steuern, Sozialabgaben; |
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