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Der insolvenzrechtliche Begriff der Zahlungsunfähigkeit ist, wie gleich darzulegen sein wird, durch die zivilrechtliche Rechtsprechung hinreichend konkretisiert. Daher soll im Folgenden zunächst der Inhalt der insolvenzrechtlichen Zahlungsunfähigkeit nach § 17 Abs. 2 S. 1 InsO dargelegt werden,[58] um im Anschluss auf dessen strafrechtliche Auslegung einzugehen.[59] Die strafrechtliche Rechtsprechung und mit ihr Teile der Literatur haben sich eine strenge zivilrechtsakzessorische Auslegung zu eigen gemacht,[60] von der ein gewichtiger Teil der Literatur allerdings abweicht und auf eine bloß funktionale Akzessorietät des strafrechtlichen Krisenbegriffs der Zahlungsunfähigkeit abstellt.
a) Die insolvenzrechtliche Zahlungsunfähigkeit
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Nach § 17 Abs. 2 S. 2 InsO ist Zahlungsunfähigkeit in der Regel anzunehmen, wenn der Schuldner seine Zahlungen eingestellt hat. Eine Zahlungseinstellung[61] begründet insofern eine gesetzliche Vermutung für eine Zahlungsunfähigkeit, die entsprechend im Prozess widerlegt werden muss.[62] Zur Zahlungseinstellung führt der BGH in Zivilsachen in einer Entscheidung aus dem Jahr 2007 Folgendes aus:[63]
„Zahlungseinstellung ist dasjenige äußere Verhalten des Schuldners, in dem sich typischerweise eine Zahlungsunfähigkeit ausdrückt. Es muss sich also mindestens für die beteiligten Verkehrskreise der Eindruck aufdrängen, dass der Schuldner nicht in der Lage ist, seine fälligen Verpflichtungen zu erfüllen.[64] […] Die tatsächliche Nichtzahlung eines erheblichen Teils der fälligen Verbindlichkeiten reicht für eine Zahlungseinstellung aus.[65] Das gilt selbst dann, wenn tatsächlich noch geleistete Zahlungen beträchtlich sind, aber im Verhältnis zu den fälligen Gesamtschulden nicht den wesentlichen Teil ausmachen.“[66]
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Im Gegensatz zur früheren Rechtslage nach der KO kommt es nunmehr für das Unvermögen des Schuldners, fällige Zahlungspflichten zu erfüllen, weder darauf an, dass die schuldnerischen Zahlungspflichten auf Dauer und im Wesentlichen unbefriedigt bleiben,[67] noch darauf, dass der Gläubiger die Erfüllung der Zahlungspflichten ernstlich einfordert.[68]
Dies macht allerdings die Abgrenzung der Zahlungsunfähigkeit von der so genannten Zahlungsstockung, also dem kurzfristig behebbaren Mangel an flüssigen Mitteln, nicht obsolet.[69] Gleiches gilt auch für die Abgrenzung der Zahlungseinstellung nach § 17 Abs. 2 S. 2 InsO zu einer Zahlungsstockung,[70] da der Gesetzgeber eine Zahlungsstockung nicht als Zahlungsunfähigkeit ansieht. Was die Dauer angeht, so versteht es sich ausweislich der Gesetzesbegründung „von selbst, dass ein Schuldner, dem in einem bestimmten Zeitpunkt liquide Mittel fehlen (…), der sich die Liquidität aber kurzfristig wieder beschaffen kann“, nicht zahlungsunfähig i. S. d. § 17 Abs. 2 InsO ist.[71] Der BGH in Zivilsachen hat unter Hinweis auf die Insolvenzantragsfrist des § 64 Abs. 1 S. 1 GmbHG a.F. für die Annahme von Zahlungsstockungen in der Regel maximal 3 Wochen[72] zugelassen, weil sich in dieser Zeit eine kreditwürdige Person die erforderlichen Mittel zur Zahlung fälliger Verbindlichkeiten beschaffen könne.[73]
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Was das entfallene Merkmal der Wesentlichkeit angeht, so ist der Gesetzgeber dennoch davon ausgegangen, dass „ganz geringfügige Liquiditätslücken außer Betracht bleiben müssen“.[74] Dem hat sich der BGH angeschlossen[75] und, um dieses Kriterium in der Praxis handhaben zu können, eine Unterdeckung von 10 % der insgesamt bestehenden Verbindlichkeiten als angemessenen Schwellenwert angesehen.[76] Allerdings ist dieser Wert aufgrund der Tatsache, dass der Gesetzgeber sich explizit gegen die Einführung einer starren prozentualen Grenze der unerfüllten Schuldnerverbindlichkeiten zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit entschieden hat,[77] nur als ein Indizwert zur Operationalisierung der als tatbestandsmäßig zu qualifizierenden Liquiditätslücke anzusehen. Die Erreichung dieses Schwellenwertes bedeutet entsprechend eine widerlegbare Vermutung der Zahlungsunfähigkeit.[78]
Entsprechend soll nach Auffassung des BGH von dem Grundsatz abgewichen werden: Bei einer Liquiditätslücke von 10 % sei Zahlungsunfähigkeit anzunehmen, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, „dass die Liquiditätslücke demnächst vollständig oder fast vollständig beseitigt werden wird und den Gläubigern ein weiteres Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zuzumuten ist“.[79]
Hinsichtlich der Beweislast führt der BGH aus, dass der Schuldner bei einem Fehlbetrag von 10 % und mehr darzutun habe, dass eine zumindest fast vollständige Beseitigung der Lücke mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit demnächst zu erwarten sei. Bei einer Lücke von weniger als 10 % obliege es dagegen dem Gläubiger zu beweisen, dass der Fehlbetrag demnächst mehr als 10 % erreichen wird.[80]
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Mit der o.g. Ausnahme bei demnächst zu erwartender Beseitigung der Deckungslücke bestätigt der BGH aber nicht nur, dass es sich bei den 10 % Unterdeckung nicht um einen starren Grenzwert für die Zahlungsunfähigkeit handelt, sondern er dehnt zugleich die 3-Wochen-Frist aus, indem er sich des Wortes „demnächst“ bzw. in den Entscheidungsgründen der Formulierung „in überschaubarer Zeit“ bedient, was wegen der Unbestimmtheit seines Inhalts in der Literatur auf berechtigte Kritik gestoßen ist.[81] Nach Fischer[82] soll man – wenn auch „mit aller Vorsicht“ – davon ausgehen können, dass grds. Verzögerungen von bis zu drei Monaten in Betracht kommen können.[83]
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Was das unter der Geltung der Konkursordnung geforderte Merkmal der ernstlichen Einforderung der Verbindlichkeitserfüllung durch den Gläubiger angeht, so bleibt zu beachten, dass nach Ansicht des BGH solche fälligen Verbindlichkeiten bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit außer Betracht bleiben müssen, die – rein tatsächlich – gestundet sind.[84] Entsprechend muss auch bei der Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit entschieden werden, ob einzelne Forderungen vom entsprechenden Gläubiger stillschweigend gestundet worden sind.[85]
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Schließlich hat der BGH die Frage, ob und wie die Zahlungsunfähigkeit beseitigt werden kann, dahingehend beantwortet, dass mit der allgemeinen Aufnahme von Zahlungen die Zahlungsunfähigkeit wegfällt.[86] Bei Stundungen von wesentlichen Verbindlichkeiten gegenüber einem der Gläubiger über einen längeren Zeitraum prüft der BGH, ob sich daneben eine allgemeine Aufnahme der Zahlungen gegenüber anderen Gläubigern feststellen lässt.[87]
b) Der strafrechtliche Krisenbegriff der Zahlungsunfähigkeit
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Unabhängig von den nunmehr in § 17 Abs. 2 InsO ausdrücklich normierten Voraussetzungen wirft der Begriff der Zahlungsunfähigkeit gerade in strafrechtlicher Hinsicht einige Probleme auf. Ein uneingeschränkter Transfer der insolvenzrechtlichen Grundsätze in das Strafrecht erscheint nicht tragbar[88] und birgt die Gefahr einer Vorverlagerung der wirtschaftlichen Krise i. S. d. § 283 StGB.[89] So zielt § 17 InsO zunächst auf die möglichst frühzeitige Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Im Gesetzgebungsverfahren wurde auf den Rückgriff auf einen bestimmten Verbindlichkeitsbruchteil verzichtet. Die in den §§ 283 ff. StGB geforderte Zahlungsunfähigkeit dient konkret der Findung der Grenze zwischen Strafwürdigkeit und wirtschaftlich notwendigem Verhalten. Es geht um die Unterscheidung zwischen noch nicht und schon strafbarem Verhalten in objektiver wie auch in subjektiver Hinsicht.[90] Zur Entwicklung forensisch verwertbarer Kriterien ist hierbei auf traditionelle Merkmale abzustellen. Abzugrenzen