1. Überblick
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Die RStPO entsprach in ihrer Grundstruktur dem reformierten Strafprozess, wie er sich in Deutschland nach 1846/48 herausgebildet hatte.[95] Mit ihren 506 Paragraphen war sie ein vergleichsweise „schlankes Gesetz“. Ihre wesentlichen Inhalte sollen im Folgenden skizziert werden, untergliedert nach Verfahrensabschnitten (Rn. 20 f.) sowie mit Seitenblicken auf das Gerichtsverfassungsgesetz und die Ausgestaltung der Laienbeteiligung (Rn. 22 f.). Beachtung verdienen schließlich solche Regelungsmaterien, die in der RStPO ungeachtet ihrer heutigen Bedeutung (noch) nicht kodifiziert waren (Rn. 24).[96]
2. Vorverfahren
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Die Anklage oblag ausschließlich der Staatsanwaltschaft (§§ 151, 152 Abs. 1 RStPO), die entgegen zahlreichen Partikulargesetzen einem strikten Legalitätsprinzip verpflichtet war (§ 152 Abs. 2 RStPO).[97] Die Privatklage blieb auf die Tatbestände der Beleidigung und Körperverletzung beschränkt (§ 414 RStGB). Entgegen der preußischen Tradition stand dem Verletzten (nicht aber Unbeteiligten oder jedem Strafantragsteller) das gerichtliche Klageerzwingungsverfahren offen (§ 170 RStPO).[98] Die vor 1871 erhobene Forderung nach einer subsidiären Popularklage hatte selbst innerhalb der Justizkommission des Reichstags keine Mehrheit gefunden.[99] Der Staatsanwaltschaft kam, abweichend von den Reformforderungen der 1850/60er Jahre, keine Parteistellung zu. Sie blieb eine zur Objektivität verpflichtete, hierarchisch gegliederte Behörde (§§ 158 Abs. 2 RStPO).[100] War die erstinstanzliche sachliche Zuständigkeit des Reichsgerichts oder der Schwurgerichte begründet, übernahm der Untersuchungsrichter die Verfahrensherrschaft, indem er die gerichtliche Voruntersuchung leitete (§ 176 RStPO). In Strafkammersachen wurde der Untersuchungsrichter allein auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder des Angeschuldigten tätig.[101] Die RStPO kannte im Ermittlungsverfahren elf Zwangsmittel, wobei eingriffsintensive Maßnahmen unter Richtervorbehalt standen.[102] Die Anordnung der Untersuchungshaft blieb auf die Haftgründe der Flucht- und Verdunkelungsgefahr beschränkt (§ 112 Abs. 1 RStPO). Bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens fanden Unterredungen des Verteidigers mit dem inhaftierten Beschuldigten auf richterliche Anordnung im Beisein einer Gerichtsperson statt, sofern die Verhaftung nicht allein wegen Fluchtgefahr angeordnet war (§ 148 RStPO).
3. Hauptverhandlung, Beschuldigtenstellung und Verteidigung
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Die Hauptverhandlung war öffentlich, mündlich und unmittelbar, wobei das Gesetz die Wahrung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes durch Schutzvorschriften absicherte, die dem heutigen Recht fremd sind. So schloss § 23 Abs. 3 RStPO u.a. den Berichterstatter des Zwischenverfahrens von der Mitwirkung am Hauptverfahren aus.[103] Zugrunde lag der schon in der Reformdiskussion formulierte Gedanke, wonach demjenigen die notwendige Unbefangenheit fehle, der sich aus vorherigem Aktenstudium eine Meinung über die Schuldfrage gebildet habe.[104] Der Sicherung des Unmittelbarkeitsgedankens sowie der Verfahrenskonzentration dienten ferner die Pflicht, die Urteilsgründe binnen drei Tagen nach Verkündung zu den Akten zu bringen (§ 275 RStPO) sowie das Verbot, die Hauptverhandlung für mehr als vier Tage zu unterbrechen (§ 228 RStPO).[105] Unbeeindruckt aller Kritik ließ die RStPO mit der inquirierenden Tätigkeit des Vorsitzenden ein Kernelement des tradierten Verfahrens unangetastet.[106] Einen bemerkenswerten Fortschritt gegenüber den Partikularrechten brachte die Ausgestaltung der Beschuldigtenstellung. So kannte die RStPO keine Pflicht zur wahrheitsgemäßen Aussage. Auch war der Beschuldigte zu Beginn der gerichtlichen Vernehmung zu befragen, „ob er etwas auf die Beschuldigung erwidern wolle“ (§ 136 Abs. 1 RStPO). Eine Belehrung über das Schweigerecht war freilich, entgegen der insofern geradezu avantgardistischen braunschweigischen Regelung, bewusst nicht aufgenommen worden.[107] Weitergehend als die Partikulargesetze gestattete die RStPO schon im Ermittlungsverfahren die formelle Verteidigung (§ 137 Abs. 1 RStPO),[108] wobei sie freilich das anwaltliche Akteneinsichtsrecht erst nach Abschluss der Voruntersuchung bzw. nach Einreichung der Anklageschrift uneingeschränkt gewährte (§ 147 Abs. 1 RStPO). Schließlich bestand mit Eröffnung des Hauptverfahrens das Recht des Verteidigers auf unüberwachte Kommunikation mit dem inhaftierten Angeklagten (§ 148 Abs. 3 RStPO). Nach der umstrittenen Kostenregelung des § 499 RStPO stand die Erstattung der Anwaltskosten selbst bei einem Freispruch im Ermessen des Gerichts. Notwendige Verteidigung wurde bei erstinstanzlicher Zuständigkeit des Reichsgerichts oder des Schwurgerichts gewährt (§ 140 Abs. 1 RStPO), außerdem auf Antrag des Beschuldigten fakultativ bei Verbrechen (§ 140 Abs. 2 Ziff. 2 RStPO). Zeugnisverweigerungsrechte bestanden aus familiären (§ 51 RStPO) oder beruflichen Gründen (§ 52 RStPO: Geistliche, Verteidiger, Rechtsanwälte, Ärzte). Die in § 51 RStPO genannten Personen waren „vor jeder Vernehmung über ihr Recht zur Verweigerung des Zeugnisses zu belehren“ (§ 51 Abs. 2 RStPO). Grundsätzlich war jeder Zeuge zu beeidigen, wobei regelmäßig der Voreid Anwendung fand (§ 60 RStPO). Der patriarchalische Geist des Kaiserreichs fand schließlich darin seinen Ausdruck, dass die RStPO allein den Ehemann als Beistand zuließ (§ 149 RStPO), ihm die Rechtsmittelbefugnis