3. Reichweite von § 251 RStPO (§ 252 StPO)
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Ein bis heute virulenter Auslegungsstreit betraf die Reichweite des § 251 RStPO.[135] Das Reichsgericht hatte sich früh auf ein enges Normverständnis festgelegt.[136] § 251 RStPO enthalte seinem Wortlaut nach allein das Verbot, frühere Vernehmungsprotokolle des privilegierten Zeugen in der Hauptverhandlung zu verlesen. Mache ein solcher Zeuge erst in der Hauptverhandlung von einem ihm zustehenden Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch, stehe die Norm einer Vernehmung der Verhörsperson nicht entgegen. Die reichsgerichtliche Auslegung stieß im Schrifttum auf nahezu geschlossene Ablehnung.[137] Mit der „rabulistischen Methode“[138] des Reichsgerichts werde das Verbot des § 251 RStPO „in eklatantester Weise umgangen“[139]. Zudem stehe die Entstehungsgeschichte einem solchen Verständnis entgegen.[140] Ungeachtet aller Einwände folgt die Rechtsprechung für richterliche Verhörspersonen bis in die Gegenwart der reichsgerichtlichen Tradition.
4. Körperliche Untersuchung des Unverdächtigen
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Den Gegenstand einer weiteren Auslegungskontroverse bildete die Zulässigkeit zwangsweiser körperlicher Untersuchungen von unverdächtigen Personen. Praktische Bedeutung erlangte die Frage vor allem für die Spurensicherung beim Verletzten. In der drastischen Zuspitzung durch v. Liszt: Musste es das Opfer eines Sexualdelikts, welches seinen „nackten Körper nicht freiwillig darbietet“, erdulden, dass ihm „die Kleider vom Leibe gerissen und alle sonst erforderlichen Gewaltmaßregeln angewendet werden“[141]? Die körperliche Untersuchung des Beschuldigten fiel unstrittig unter den Wortlaut des § 102 RStPO (Durchsuchung beim Verdächtigen). Die Untersuchung Unverdächtiger wurde vom Reichsgericht in denkbar weiter Auslegung auf § 103 Abs. 1 RStPO gestützt.[142] Die überwiegende Literatur kritisierte die offenkundig ergebnisorientierte Judikatur vehement als „unhaltbar“.[143] Ins Feld geführt wurde ein Verstoß gegen den eindeutigen, auf Hausdurchsuchungen beschränkten Gesetzeswortlaut[144], das Fehlen einer ausdrücklichen Befugnisnorm sowie das Unterlaufen von Zeugnisverweigerungsrechten. Zudem habe während des Gesetzgebungsverfahrens „keine Seele an die Möglichkeit einer (derartigen) Interpretation gedacht“[145]. Der gescheiterte Entwurf einer RStPO von 1904/1905 enthielt eine ausdrückliche Ermächtigungsnorm (§ 82 Abs. 2).[146] Rechtsklarheit im Sinne extensiver Eingriffsbefugnisse schaffte indes erst der nationalsozialistische Gesetzgeber im Jahre 1933.[147]
IV. Wissenschaftshistorische Einordnung
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Das Urteil über die RStPO divergiert je nach zeitlicher und fachlicher Perspektive. Aus juristisch-dogmatischer Sicht erscheint das Gesetzeswerk als „stolzes Werk nationaler Rechtseinheit“[148], das zu den „großen liberalen Denkmälern des 19. Jahrhunderts“ zählt[149]. Auf der „Habenseite“ stehen mit dem Ausbau der Beschuldigten- und Verteidigungsrechte sowie mit der Stärkung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes erhebliche Verbesserungen gegenüber den partikularen Rechtsordnungen. Im zeitgenössischen Schrifttum stieß die RStPO indes auf wenig Gegenliebe. Selbst abwägenden Beobachtern galt sie als „das mangelhafteste der Justiz-Gesetze“[150]. Andere sprachen von einem „verpfuschten Machwerk“, einer „bunten Musterkarte disparatester Prinzipien, wirr durcheinanderlaufender Velleitäten“[151] oder gar von einer „hässlichen Bastardform“[152]. Der ausgeprägte Kompromisscharakter des Gesetzes schien nur Verlierer zu kennen und weder das Parlament noch die Regierungen zufriedenzustellen. Zwar wurde das Schwurgericht beibehalten, die Laienbeteiligung jedoch im Übrigen marginalisiert. Einerseits gelangte die Berufung in das Gesetz, andererseits blieb sie gegen Urteile der angefeindeten Strafkammern unstatthaft. Zwar gelang es dem Reichstag, der Reichsregierung einige der zuvor als „unannehmbar“ erklärten Normierungen abzutrotzen,[153] doch „kapitulierten“ die nationalliberalen Verhandlungsführer bei den politisch bedeutsamen Schutzrechten für die Presse.[154] Mit Blick auf die Problemfelder, welche die liberale Öffentlichkeit des Kaiserreichs in besonderem Maße bewegten (Schwurgericht, Laienbeteiligung, Strafkammern, Berufung, Schutz der Presse) musste die Bilanz somit enttäuschend ausfallen.[155] Nicht zu übersehen ist schließlich aus historischer Perspektive, dass für die nationale Rechtseinheit ein hoher politischer Preis zu entrichten war. Die Verabschiedung der RStPO gelang nur unter Desavouierung der übrigen Reichstagsparteien durch die Nationalliberalen, deren eigenmächtiges Vorgehen die Spaltung des deutschen Liberalismus zum Ausdruck brachte.[156]
I. Übersicht
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Im Kaiserreich kam die Diskussion über die Reform des Strafprozessrechts nicht zur Ruhe, wobei sich die inhaltlichen Schwerpunkte allmählich verschoben. Während vor 1871 vor allem das Schwurgerichtsproblem im Vordergrund stand, prägten gegen Ende des Jahrhunderts Schlagwörter wie „Vertrauenskrise der Justiz“ oder „Klassenjustiz“ die öffentliche Debatte.[157] Monatsschriften und politische Publizistik etablierten sich außerhalb des rechtswissenschaftlichen Fachdiskures als neue Foren der Justizkritik. Zu den „rechtspolitischen Reizthemen“ des späten Kaiserreichs – an denen die Prozessrechtsreform schließlich scheitern sollte – avancierten die Berufungsfrage sowie die Beseitigung berufsrichterlich besetzter Strafkammern. Daneben blieb der Streit über das Schwurgericht ebenso virulent wie das Bestreben, inquisitorische Elemente aus dem Verfahren zu verbannen (Rn. 32). Die Geschichte der Reform des Strafprozessrechts während des Kaiserreichs ist eine Geschichte des Scheiterns. Während im Bereich des materiellen Strafrechts in den Jahren 1876, 1900 und 1912 immerhin größere Änderungsgesetze verabschiedet wurden, sind für das Strafprozessrecht lediglich vereinzelte Randkorrekturen zu verzeichnen (Rn. 34). Beschränkten sich erste Vorstöße noch auf Einzelfragen, so stand für den Gesetzgeber bereits eine Generation nach Erlass der Reichsjustizgesetze die Ausarbeitung einer neuen RStPO auf der Agenda (Rn. 35).
II. Streitpunkte
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Die Reformdiskussion des Kaiserreichs durchzog ein tiefes Misstrauen gegen beamtete Richter, insbesondere gegen reine Juristengerichte. v. Liszt konstatierte, „daß es die Strafkammern und nur die Strafkammern sind, deren Urteile das Vertrauen des Volkes in unsere Strafrechtspflege erschüttert haben“[158]. Die Kritik der liberalen Öffentlichkeit entzündete sich an politischen Prozessen während des „Kulturkampfes“, an Verfahren wegen „Majestätsbeleidigung“ sowie an umstrittenen Urteilen in Presse- und Staatsschutzsachen.[159] Nachdem Preußen die Etablierung rein berufsrichterlich besetzter Strafkammern durchgesetzt hatte,[160] schien deren Ersetzung durch Schöffengerichte zunächst aussichtslos. Zum eigentlichen „Ausgangspunkt für die gesamte Reformbewegung“ wurde daher das Verlangen nach Einführung der Berufung gegen alle erstinstanzlichen Urteile (mit Ausnahme der Schwurgerichtsurteile).[161] Unter den Befürwortern einer Berufung gegen Strafkammerurteile herrschte freilich Streit über die Verortung (Landgericht/Oberlandesgericht) und Besetzung (Verhältnis Berufs- und Laienrichter) der einzurichtenden Berufungskammern. Während Anwaltschaft und Publizistik für die Berufung