Während im Vormärz über die deutschen Partikularstaaten auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts eine „mächtige Kodifikationswelle“ hinweggegangen war[7], blieb der tradierte schriftlich-geheime Inquisitionsprozess rechtsrheinisch bis 1846/1848 unangetastet. Allein die frühkonstitutionellen Verfassungen boten mit ihrer Garantie von Justizgrundrechten einen gewissen „Kodifikationsersatz“.[8] In den linksrheinischen preußischen Rheinprovinzen, in Rheinhessen und der bayerischen Rheinpfalz blieb indes der von Frankreich implementierte reformierte Strafprozess, einschließlich des Schwurgerichts, auch nach Napoleons Niederlage in Kraft. Es bedurfte erst einer Revolution, um dem modernen Strafprozess im rechtsrheinischen Deutschland zum Durchbruch zu verhelfen.[9] Die Frankfurter Reichsverfassung von 1849 übernahm die prozessualen Kernforderungen des Vormärzliberalismus: „Das Gerichtsverfahren soll öffentlich und mündlich sein“ (§ 178 FRV), „In Strafsachen gilt der Anklagegrundsatz“ (§ 179 Abs. 1 FRV). Schwurgerichte sollten „jedenfalls in schwereren Strafsachen und bei allen politischen Vergehen“ (§ 179 Abs. 2 FRV) sowie „über Preßvergehen, welche von Amts wegen verfolgt werden“ (§ 143 Abs. 3 FRV) urteilen.
2. Das preußische Gesetz vom 17. Juli 1846
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Ungeachtet seiner liberalen Tradition war es ein preußisches Ad-hoc-Gesetz, das den reformierten Strafprozess – wenngleich ohne Schwurgerichte – erstmals im rechtsrheinischen Deutschland etablierte. Das „Gesetz, betreffend das Verfahren in den bei dem Kammergericht und dem Kriminalgericht zu Berlin zu führenden Untersuchungen“ vom 17. Juli 1846 diente der Bewältigung eines Aufsehen erregenden „Mammutprozesses“.[10] 254 Polen waren angeklagt, sich in der neupreußischen Provinz Posen gegen den preußischen Staat erhoben zu haben.[11] Ein mündlich-unmittelbares Verfahren erschien der preußischen Regierung effizienter als das langwierige schriftlich-geheime Verfahren der geltenden preußischen Kriminalordnung von 1805. Auch ermöglichte es das neu geschaffene Institut der Staatsanwaltschaft, Einfluss auf das Prozessgeschehen zu nehmen. Treffend bezeichnete es schon Ignor als eine „ebenso sonderbare wie aufschlussreiche Pointe der deutschen Strafrechtsgeschichte, dass nicht die Forderung nach mehr Freiheitsschutz im Strafverfahren, sondern das Anliegen staatlicher Repression erstmals zur Einführung des reformierten Strafprozesses geführt hat“[12].
III. Verfahrensgesetze der Partikularstaaten nach 1848
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Die Ereignisse des Jahres 1848 gaben den Anstoß für eine grundlegende, aus vormärzlicher Perspektive geradezu „revolutionäre“ Umwälzung des Strafverfahrensrechts. Waren zuvor sämtliche Versuche einer umfassenden Reform gescheitert, erließen die deutschen Partikularstaaten nunmehr in rascher Folge provisorische Einführungsgesetze oder vollständige Strafprozessordnungen, die den öffentlich-mündlichen Anklageprozess sowie – zumeist – das Geschworenengericht festschrieben.[13] Einzig in Schaumburg-Lippe, Lippe-Detmold, Mecklenburg-Strelitz und Mecklenburg-Schwerin blieb der gemeinrechtliche Inquisitionsprozess bis zum Inkrafttreten der Reichsstrafprozessordnung in Geltung. Den Anfang unter den neuen Verfahrensordnungen machte Braunschweig (1849), es folgten die sog. „Thüringische Strafprozessordnung“ mehrerer mitteldeutscher Kleinstaaten (1850),[14] Hannover (1850/1859), Sachsen-Altenburg (1854), Sachsen (1855/1868), Frankfurt (1856), Oldenburg (1857), Lübeck (1862), Bremen (1863/1870), Baden (1864), das Großherzogtum Hessen (1865), Württemberg (1868) und Hamburg (1869).[15] In Bayern und Preußen gelang es hingegen nicht, ein landeseinheitliches Prozessrecht zu verabschieden. Während in den dortigen linksrheinischen Territorien weiterhin der Code d´instruction criminelle Anwendung fand, blieben in den übrigen Landesteilen die unmittelbar nach 1848 erlassenen Einführungsgesetze die maßgebliche Rechtsgrundlage.[16] Für die nach dem Krieg mit Österreich gewonnenen Gebiete (Hannover, Kurhessen, Nassau, Frankfurt, Schleswig-Holstein) galt als dritte Verfahrensordnung innerhalb Preußens überdies die „Strafprozeß-Ordnung vom 15. Juli 1867 für die mit der Monarchie vereinigten Landestheile“.[17]
1. Verfahrensprinzipien
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Trotz der Vielzahl der zwischen 1848 und 1869 erlassenen Verfahrensgesetze entstand ungeachtet aller Divergenzen in Einzelfragen ein gemeinsamer Grundtyp des reformierten deutschen Strafprozesses. Die Rechtseinheit auf dem Gebiet des Strafverfahrens überdauerte insofern den Wegfall des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses. Die Gesetzgeber rezipierten das aus dem linksrheinischen Deutschland vertraute, zudem kodifizierte und wissenschaftlich bearbeitete französisch-rheinische Prozessrecht. Nicht ernsthaft in Erwägung gezogen wurde hingegen die Etablierung eines kontradiktorischen Prozessmodells nach englischem Vorbild. Es entstand, im Urteil der Zeitgenossen, ein Verfahren, das mit der „accusatorischen Form eine öffentlich mündliche Hauptverhandlung und die Einrichtung der Schwurgerichte (verband)“[18].
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Als „akkusatorisch“ galt der reformierte Prozess, weil die Anklageerhebung durch ein besonderes Organ, die Staatsanwaltschaft, erfolgte. Die Pflicht des Richters, „alle seine Kräfte aufzubieten“, um die materielle Wahrheit unabhängig vom Parteivorbringen zu ermitteln, blieb unangetastet.[19] Der preußische Gesetzgebungsminister Friedrich Carl v. Savigny (1779–1861) beeilte sich festzustellen, dass die Reform das Wesen des Inquisitionsprozesses nicht berühren sollte.[20] Entsprechend akzentuierte das Schrifttum die Kontinuität zum gemeinrechtlichen Prozess und erblickte im Untersuchungsprinzip die fortgeltende Grundmaxime des Strafverfahrens.[21] Lediglich „Ausartungen“ seien beseitigt worden.[22] Ausnahmslos normierten die neuen Verfahrensgesetze die Prinzipien der Öffentlichkeit
2. „Der Geist des Anklageprozesses“: Die Strafprozessordnung für das Herzogtum Braunschweig von 1849
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Während die übrigen deutschen Staaten glaubten, dem Anklageprinzip durch die Einführung der Staatsanwaltschaft genüge getan zu haben, leitete allein die braunschweigische Strafprozessordnung aus diesem Grundsatz weitreichende Beschuldigtenrechte ab. Der „Geist des Anklageprozesses“ gebiete es, den Beschuldigten als „Partei, mithin nicht als Objekt, sondern als Rechtssubject mit wesentlich gleichen