I. Der Begriff der „öffentlichen Gewalt“ i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG
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Da Art. 19 Abs. 4 GG lediglich unspezifisch von der „öffentlichen Gewalt“ spricht, besteht über seine genaue Reichweite Unklarheit. Öffentliche Gewalt i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG ist zunächst nach tradiertem Verständnis ausschließlich die dem Grundgesetz unterworfene, inländische öffentliche Gewalt.[17] Außer Streit steht darüber hinaus, dass das Handeln der Exekutive der öffentlichen Gewalt i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG zuzuordnen ist.[18] Probleme können allerdings entstehen, wenn sich die Strafverfolgungsbehörden bei der Sachverhaltsaufklärung der Hilfe Privater bedienen. Die herrschende Meinung steht hier auf dem Standpunkt, dass das Handeln sog. agents provocateurs und V-Leute, die im Auftrag von Polizei und Staatsanwaltschaft tätig werden, dem Staat dann zuzurechnen ist, wenn die verdeckt ermittelnden Privatpersonen sich im Rahmen des ihnen erteilten Auftrages bewegen. Etwas anderes soll hingegen für Exzesse der in staatlichem Auftrag tätigen Ermittlungsgehilfen sowie für eigeninitiative Ermittlungen Privater gelten, die ihr Wissen den Strafverfolgungsbehörden als sog. Informanten zur Verfügung stellen.[19] Ausnahmsweise soll eine Zurechnung allerdings auch im letztgenannten Fall in Betracht kommen, wenn die besonderen Bedingungen der Untersuchungshaft zur Ausforschung eines Mithäftlings ausgenutzt wurden.[20]
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Nach Ansicht des BVerfG begegnet es keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass die Strafprozessordnung dem Beschuldigten grundsätzlich keinen Rechtsschutz gegen die Einleitung und Fortführung eines Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft gewährt.[21] Diese restriktive Position, die im Wesentlichen mit dem Hinweis auf den „regelmäßig weiterreichend(en) und umfassender(en)“ Rechtsschutz im Zwischen- und Hauptverfahren begründet wird, vermag angesichts des mit der Durchführung strafprozessualer Ermittlungen verbundenen, eigenständigen Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG – der weder durch die Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens noch durch einen späteren Freispruch kompensiert werden kann – nicht zu überzeugen; der Gesetzgeber sollte daher die Schaffung eines Einstellungserzwingungsrechtsbehelfes in Erwägung ziehen.[22] Nach der Rechtsprechung des BVerfG unterliegen schließlich auch Gnadenentscheidungen der Exekutive keiner gerichtlichen Nachprüfung. In ihnen komme eine „Gestaltungsmacht besonderer Art“ zum Ausdruck; sie unterlägen daher „nicht den Sicherungen, den Gewaltenverschränkungen und -balancierungen [. . .], die gewährleisten sollen, daß Übergriffe der Exekutive durch Anrufung der Gerichte abgewehrt werden können“.[23]
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Akte der Legislative werden von der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ebenfalls grundsätzlich nicht der öffentlichen Gewalt i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG zugeordnet. Begründet wird dies mit dem Hinweis auf den abschließenden Charakter der Vorschriften über die Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, 4a, 100 Abs. 1 GG), welche die Überprüfung und Verwerfung von Gesetzen dem BVerfG vorbehalten.[24] Anderes soll für Rechtsakte der Exekutive (Verordnungen, Satzungen) gelten.[25] Demgegenüber befürwortet eine breite Strömung in der verfassungsrechtlichen Literatur die Einbeziehung auch der parlamentarischen Gesetzgebung in den Begriff der „öffentlichen Gewalt“.[26]
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Obwohl auch die Gerichte nach Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden sind, zu denen Art. 19 Abs. 4 GG zählt, soll die Judikative nach überwiegender Ansicht nicht der öffentlichen Gewalt i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG zuzuordnen sein. In der Rechtsprechung des BVerfG wird dies regelmäßig mit der auf G. Dürig zurückgehenden Kurzformel zum Ausdruck gebracht, das Grundgesetz gewährleiste zwar den Rechtsschutz durch den Richter, nicht jedoch gegen den Richter.[27] Konsequenz dieser keineswegs unbestrittenen[28] Ansicht ist, dass Art. 19 Abs. 4 GG nicht die Eröffnung eines Instanzenzuges gebietet.[29] Dort, wo das Prozessrecht eine weitere Instanz eröffnet, soll Art. 19 Abs. 4 GG jedoch in dem gesetzlich vorgezeichneten Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle gewährleisten.[30] Das zur Entscheidung berufene Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer „leerlaufen“ lassen.[31] Der Zugang zur Rechtsmittelinstanz darf nicht von Voraussetzungen abhängig gemacht werden, „die unerfüllbar oder unzumutbar sind oder den Zugang in einer Weise erschweren, die aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen ist“;[32] Formerfordernisse dürfen nicht strenger ausgelegt werden, als dies durch ihren Zweck geboten ist.[33] Hieraus ergeben sich nach Ansicht des BVerfG allerdings keine grundsätzlichen Bedenken gegen die extensive Interpretation, welche die in § 344 Abs. 2 S. 2 StPO für die Verfahrensrüge (vgl. auch → StPO Bd. 7: Michael Lindemann, Materielle Grundrechtsgewährleistungen und ihre Bedeutung für das Strafverfahren, § 2 Rn. 39) oder in § 172 Abs. 3 S. 1 StPO für den Klageerzwingungsantrag normierten Darlegungsanforderungen durch die Fachgerichte erfahren haben.[34] Die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 GG wegen übersteigerter Darlegungsanforderungen bleibt danach Ausnahmefällen vorbehalten; so sollen beispielsweise die Grenzen des verfassungsrechtlich Zulässigen im Klageerzwingungsverfahren (erst) überschritten sein, wenn der Antragsteller „sich mit rechtlich Irrelevantem auseinandersetzen soll, wenn er sich Kenntnis von den Akten verschaffen soll, obwohl hierfür keine Veranlassung besteht, oder wenn er die staatsanwaltschaftlichen Entscheidungen oder die Einlassungen des Beschuldigten auch in ihren irrelevanten Abschnitten oder gar zur Gänze wiedergeben soll, obwohl sich deren wesentlicher Inhalt aus der Antragsschrift ergibt.“[35]
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Eine gewisse Kompensation der Herausnahme richterlicher Spruchtätigkeit aus dem Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 4 GG wird dadurch erreicht, dass der aus Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. den Freiheitsgrundrechten abgeleitete allgemeine Justizgewährungsanspruch Rechtsschutz auch in den von Art. 19 Abs. 4 GG nicht erfassten Fällen ermöglichen soll, soweit dies rechtsstaatlich geboten ist.[36] Nach Ansicht des BVerfG soll allerdings beispielsweise die Rechtsprechung des BGH zur sog. „Rügeverkümmerung“, gegen die im Schrifttum durchaus überzeugende Bedenken geäußert wurden,[37] mit der allgemeinen Rechtsschutzgarantie vereinbar sein.[38] Nach der Plenarentscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2003 erstreckt sich der Gewährleistungsgehalt der allgemeinen Rechtsschutzgarantie insbesondere auf die Einhaltung der Verfahrensgrundrechte aus Art. 101 Abs. 1, 103 Abs. 1 GG, da Verstöße durch die Fachgerichte ansonsten „ohne verfassungsrechtlich