Beispiel
Der Vater von Mona klagt gegen seinen Cousin Carl auf Zahlung von 1000 € aus einem Kaufvertrag. Kurze Zeit später klagt er nochmals gegen Carl. Auch diesmal will er Zahlung von 1000 €, allerdings aus einem Darlehensvertrag. In beiden Fällen lautet der Klageantrag in der Klageschrift: „Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1000 € zu zahlen“. Was ist der Streitgegenstand der Klagen? Liegt Identität des Streitgegenstands vor?
a) Eingliedriger Streitgegenstandsbegriff
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Nach der Theorie des eingliedrigen Streitgegenstandsbegriffs[107] ist der Klageantrag für die Bestimmung des Streitgegenstands entscheidend.
Da es eine unendliche Vielzahl an Klageanträgen gibt (z.B. „Der Beklagte wird verurteilt, den Fernseher mit der Herstellernummer DXY2569 herauszugeben“, „der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 257 € zu zahlen“, „der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 2000 € zu zahlen“), lassen sich mit dieser Theorie die meisten Abgrenzungsfragen lösen. Allerdings scheitert die Theorie des eingliedrigen Streitgegenstandsbegriffs bei gleichlautenden Leistungsklagen, wie im obigen Beispiel. Nach der Theorie des eingliedrigen Streitgegenstands würde an sich nur ein Streitgegenstand vorliegen, auch wenn der Klage völlig unterschiedliche Lebenssachverhalte zugrunde liegen. Daher zieht diese Theorie als Auslegungshilfe den vom Kläger vorgetragenen Sachverhalt heran.[108]
b) Zweigliedriger Streitgegenstandsbegriff
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Die Rechtsprechung geht von einem zweigliedrigen Streitgegenstandsbegriff aus.[109] Danach wird der Streitgegenstand durch den Klageantrag und den Lebenssachverhalt bestimmt.
Folgt man dieser Theorie, liegen im obigen Beispiel zwei verschiedene Streitgegenstände vor. Identisch sind zwar die Klageanträge, nicht aber die zugrunde liegenden Lebenssachverhalte. Daher kann die zweite Klage wirksam erhoben werden. Die Rechtshängigkeit der ersten Klage steht der zweiten Klage nicht entgegen. Wichtig ist, dass sich der Streitgegenstand nach dem Lebenssachverhalt und nicht (!) nach dem materiellen Anspruch (§ 194 BGB) richtet.[110] Relevant wird dies im Fall der sog. Anspruchskonkurrenz, d.h. wenn mehrere Anspruchsgrundlagen einschlägig sind.[111] Wird bei einem Taxiunfall ein Fahrgast verletzt, kann dieser Schadensersatz aus § 280 Abs. 1 BGB und aus § 823 Abs. 1 BGB verlangen. Es liegt aber nur ein Streitgegenstand vor. Der Kläger kann nicht wegen zwei Anspruchsgrundlagen zwei Prozesse führen. Davon abzugrenzen sind Situationen, in denen die zusammentreffenden Ansprüche erkennbar unterschiedlich ausgestaltet sind.[112] Wann das eine, wann das andere vorliegt, ist nicht ganz einfach zu beantworten. Aufgrund dieser Unsicherheit hat sich eine umfangreiche Kasuistik entwickelt.[113]
143
Beispiel
Mehrere Streitgegenstände
Bei Schadensersatzansprüchen bilden materieller Schadensersatz und Schmerzensgeld zwei Streitgegenstände.[114] Gleiches gilt beim Kauf einer mangelhaften Sache für unterschiedliche Sachmängel.[115] Bei dem Anspruch des Käufers auf Kaufpreisrückzahlung sowie Schadensersatz (§§ 437 Nr. 2, 3 i.V.m. 325 BGB) und dem Anspruch des Verkäufers auf Ersatz gezogener Nutzungen (§ 346 Abs. 2 BGB) handelt es sich um zwei Streitgegenstände.[116]
Beispiel
Einheitlicher Streitgegenstand
Schließen sich zwei Anspruchsgrundlagen wechselseitig aus (Vertrag/§ 812 BGB) liegt ein einheitlicher Streitgegenstand vor.[117] Bei mehreren Beratungsfehlern in einem Bankgespräch soll es sich um einen Streitgegenstand handeln.[118] Gleiches gilt bei mehreren Prospektfehlern.[119]
Beispiel
Mona beschließt, wegen der mangelhaften Fliesen vom Kaufvertrag zurückzutreten (§§ 437 Nr. 2, 323, 346 BGB). Sie erhebt Klage auf Kaufpreisrückzahlung in Höhe von 600 € beim AG Köln. Die Klage wird rechtskräftig abgewiesen. Jetzt klagt Mona auf Minderung (§§ 437 Nr. 2, 441 BGB) in Höhe von 600 €. Problematisch ist die Zulässigkeit der (zweiten) Klage. Unterstellt wird zunächst, dass die Klage ordnungsgemäß erhoben wurde. Fraglich ist aber, ob die materielle Rechtskraft des ersten Urteils der zweiten Klage nach § 322 ZPO entgegensteht. Dies ist der Fall, wenn Parteiidentität und Streitgegenstandsidentität bestehen. Erste und zweite Klage betreffen dieselben Parteien, Mona und die V-GmbH. Zu prüfen ist nun, ob derselbe Streitgegenstand vorliegt. Nach der h.M. (zweigliedriger Streitgegenstandsbegriff) setzt sich der Streitgegenstand aus Antrag und dem zugrunde liegenden Lebenssachverhalt zusammen. Zwar liegen identische Anträge vor. Es könnte sich aber um unterschiedliche Lebenssachverhalte handeln. Dagegen spricht, dass es bei der Klage um denselben Mangel (Fliesenverfärbungen) geht, also derselbe Tatsachenkomplex gegeben ist. Dafür spricht, dass Rücktritt und Minderung an unterschiedliche Tatsachen knüpfen. Für den Rücktritt muss der Mangel erheblich sein (§ 323 Abs. 5 S. 2 BGB). Für die Minderung nicht. Daher steht die materielle Rechtskraft des ersten Urteils der neuen Klage von Mona nicht entgegen.[120] Die Klage ist zulässig. Mona muss nur darauf achten, dass ihr Minderungsanspruch nicht verjährt ist (§ 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB). Gut für sie ist, dass durch die Klage auf Kaufpreisrückzahlung auch die Verjährung des Anspruchs auf Minderung gehemmt wird.[121]
2. Teil Erkenntnisverfahren › C. Die Zulässigkeit der Klage › VI. Zusammenfassung zur Zulässigkeit der Klage
VI. Zusammenfassung zur Zulässigkeit der Klage
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Der Richter weist eine Klage als unzulässig ab, wenn das Gericht sachlich unzuständig ist (außer Verweisungsantrag), das Gericht örtlich unzuständig ist (außer Verweisungsantrag), die Parteifähigkeit oder die Prozessfähigkeit oder die Postulationsfähigkeit fehlt, die Klage nicht ordnungsgemäß erhoben wurde (keine Angaben zu Gegenstand und Grund des Anspruchs, kein bestimmter Antrag), der erforderliche Schlichtungsversuch nicht durchgeführt wurde, die Klage bereits bei einem anderen Gericht rechtshängig ist, ein anderes Gericht über die Klage bereits rechtskräftig entschieden hat oder wenn das Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Das Augenmerk des Klägers muss also zunächst auf den Zulässigkeitsfragen liegen. Die Erfüllung aller Prozessvoraussetzungen verschafft dem Kläger den erforderlichen Zutritt zu Gericht und garantiert ihm, dass das Gericht in die Prüfung der materiellen Rechtslage einsteigt.
JURIQ-Klausurtipp
Die Vorschriften zur sachlichen Zuständigkeit (§§ 23, 71 GVG) sowie zur örtlichen Zuständigkeit (§§ 12 ff. ZPO) gehören zum Basiswissen und sind beliebte Zusatzfragen in der Klausur und in der mündlichen Prüfung. Versuchen Sie daher, sich die Grundregeln gut einzuprägen. Auch die Begriffe der Partei-, Prozess- und Postulationsfähigkeit müssen von Ihnen beherrscht werden.
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