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Ihrer rechtlichen Einordnung nach können Schutzauflagen im Sinne des § 74 Abs. 2 S. 2 VwVfG Nebenbestimmung nach § 36 VwVfG sein[235], es kann sich aber auch um sachliche Beschränkungen der Vorhabenzulassung handeln[236]. Eine Grenze finden sie jedoch dort, wo durch die Änderung die Identität des Vorhabens nicht mehr gewahrt ist. In diesem Fall muss der Antrag geändert werden[237]. Gegenstand einer Schutzauflage können alle Maßnahmen sein, die geeignet sind, die Auswirkungen des Vorhabens für die Allgemeinheit oder einzelne Betroffene zu verringern[238]. Neben Vorkehrungen am Vorhaben selbst (aktiv) kommt auch die Errichtung von Anlagen in Betracht, die die Auswirkungen des Vorhabens mindern sollen (passiv). Auch betriebsregelnde Maßnahmen sind möglich[239]. Die Bestimmung der Maßnahme steht im Ermessen der Planfeststellungsbehörde[240]. Es sind jedoch spezialgesetzliche Vorgaben wie der Vorrang aktiven Schallschutzes vor passivem Schallschutz nach § 41 BImSchG beim Bau von Verkehrswegen zu beachten[241].
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Sind Maßnahmen zur Vermeidung der nachteiligen Wirkungen nicht möglich, führt dies nicht notwendigerweise zur Unzulässigkeit des Vorhabens. Im Gegenteil sieht § 74 Abs. 2 S. 3 VwVfG als spezielle Form des Ausgleichs eine angemessene Entschädigung in Geld vor. Voraussetzung hierfür ist, dass die Maßnahmen untunlich oder mit dem Vorhaben unvereinbar sind. Untunlichkeit liegt vor allem dann vor, wenn der Aufwand für die Maßnahme unverhältnismäßig erscheint[242]. Unvereinbarkeit ergibt sich dann, wenn die Maßnahme dem Zweck des Vorhabens entgegensteht[243]. Die Regelung zeigt auch, dass der physisch-reale Ausgleich Vorrang vor dem Ausgleich durch eine Geldzahlung genießt. Auch der Betroffene hat kein Wahlrecht[244]. Bei der Entschädigung nach § 74 Abs. 2 S. 3 VwVfG handelt es sich nicht um eine Enteignungsentschädigung. Sie erfordert kein gesondertes Verwaltungsverfahren, sondern wird von der Planfeststellungsbehörde im Planfeststellungsbeschluss festgesetzt[245]. Die Entschädigung muss im Planfeststellungsbeschluss jedoch nicht notwendigerweise schon beziffert werden. Sind die möglichen Schäden noch nicht überschaubar oder bezifferbar, reicht eine Entscheidung dem Grunde nach aus[246].
II. Nachträgliche Ausgleichsregelungen bei nicht vorhersehbaren Auswirkungen
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Die Regelung des § 75 Abs. 2 S. 2 VwVfG scheint zunächst in einem engen systematischen Zusammenhang mit § 74 Abs. 2 S. 2 VwVfG zu stehen. Auch sie sieht vor, dass „der Betroffene Vorkehrungen oder die Errichtung und Unterhaltung von Anlagen verlangen [kann], welche die nachteiligen Wirkungen ausschließen“. Die Funktion der Regelung ist jedoch eine andere. Während § 74 Abs. 2 S. 2 und 3 VwVfG im Kontext der planerischen Abwägung steht, stellt § 75 Abs. 2 S. 2 und 4 VwVfG der Sache nach eine Bestandsschutzregelung dar. Die Regelung ist im Zusammenhang mit der Ausschluss- und Duldungswirkung des § 75 Abs. 2 S. 1 VwVfG zu sehen. Sie verleiht der planfestgestellten Anlage einen Bestandsschutz, der sie im Kern gegen nachträgliche Änderungen immunisiert. Dieser ist im Anbetracht der langen Lebensdauer planfestgestellter Vorhaben und der potenziellen, aber häufig im Zeitpunkt der Planfeststellungsentscheidung noch nicht absehbaren Auswirkungen, sehr weitgehend und nicht ohne kompensierende Einschränkungen vertretbar. Dementsprechend schafft § 75 Abs. 2 und 4 VwVfG eine Rechtsgrundlage für nachträgliche Maßnahmen, mit denen die nicht vorhersehbaren Auswirkungen von Anlagen ausgeglichen werden sollen. Die Beschränkung auf nicht vorhersehbare Auswirkungen ist insofern konsequent, als vorhersehbare Auswirkungen im Planfeststellungsbeschluss zu berücksichtigen und gegebenenfalls zum Gegenstand von Schutzauflagen nach § 74 Abs. 2 S. 2 und 3 VwVfG zu machen sind.
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§ 75 Abs. 2 S. 2 VwVfG setzt zunächst voraus, dass unvorhersehbare Wirkungen eintreten, nachdem der Planfeststellungsbeschluss für den Betroffenen unanfechtbar geworden ist[247]. Nachträgliche Schutzanordnungen können nur durch nachteilige Wirkungen auf das Recht eines anderen begründet werden. Anders als bei Schutzanordnungen im Planfeststellungsbeschluss selbst reicht eine Beeinträchtigung des Allgemeinwohls als Anknüpfungspunkt im Rahmen des § 75 Abs. 2 S. 2 VwVfG nicht aus[248]. Die Fachplanungsgesetze können jedoch nachträgliche Anordnungen auch im öffentlichen Interesse ermöglichen[249].
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Probleme bereitet die Anforderung, dass die Auswirkungen vor Eintritt der Unanfechtbarkeit des Planfeststellungsbeschlusses nicht voraussehbar waren. Für die Annahme der Voraussehbarkeit reicht es aus, dass die Auswirkungen mit hinreichender Zuverlässigkeit prognostiziert werden können[250]. Es kommt darauf an, ob der Betroffene mit den Auswirkungen rechnen konnte oder musste. Für die Beurteilung dieser Frage legt die Rechtsprechung einen rein objektiven Maßstab zugrunde. Es wird nicht auf die Fähigkeiten des einzelnen Betroffenen, sondern auf die eines erfahrenen Fachmannes abgestellt[251]. Dieser Maßstab nimmt jedoch zu wenig Rücksicht auf die subjektive Verfahrensperspektive der möglichen Betroffenen. Von diesen kann nur erwartet werden, dass sie sich gegen Auswirkungen zur Wehr setzen, die für sie erkennbar sind. Es ist Aufgabe der Behörde, die möglichen Auswirkungen zu ermitteln und hierüber zu informieren. Kommt sie dieser Aufgabe nach, erhöht sich damit der Schutz des Vorhabens gegen nachträgliche Schutzanordnungen. Anders als die beschriebene Expertensicht sollte dementsprechend die Perspektive eines Betroffenen mit durchschnittlichen Erkenntnisfähigkeiten zugrunde gelegt werden[252]. Vor allem muss der Betroffene auf die Richtigkeit der Prognosen und Gutachten, die von der Behörde zugrunde gelegt werden, vertrauen dürfen[253]. Beruht die Entscheidung der Planfeststellungsbehörde auf fehlerhaften Prognosen und Gutachten, sind – entgegen einer restriktiveren Herangehensweise der Rechtsprechung – daraus erwachsende Auswirkungen nicht vorhersehbar[254]. Wie im Anwendungsbereich des § 74 Abs. 2 S. 2 VwVfG muss sich der Betroffene auch bei einer Schutzanordnung nach § 75 Abs. 2 S. 2 VwVfG auf einen Entschädigungsanspruch verweisen lassen, wenn etwaige Vorkehrungen untunlich oder mit dem Vorhaben unvereinbar sind.
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Die rechtliche Einordnung der nachträglichen Anordnung, die gemäß § 75 Abs. 2 S. 3 VwVfG „durch Beschluss“ ergeht, ist nicht abschließend geklärt. Es handelt sich nicht lediglich um eine Auflage im Sinne des § 36 VwVfG. Umstritten ist allerdings, ob es sich um einen einfachen Verwaltungsakt[255] oder um einen Planfeststellungsbeschluss handelt[256]. Für Letzteres spricht, dass die Anordnung inhaltlich eine Änderung des Planfeststellungsbeschlusses darstellt. Relevanz kommt dem insbesondere hinsichtlich des Verfahrens – einfaches Verfahren oder Planfeststellungsverfahren – zu.
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Nachträgliche Schutzanordnungen erfordern gemäß § 75 Abs. 3 VwVfG einen Antrag, sie werden nicht von Amts wegen gewährt[257]. Gemäß § 75 Abs. 3 S. 2 VwVfG kann der Antrag nur innerhalb von drei Jahren ab dem Zeitpunkt gestellt werden, zu dem der Betroffene von den nachteiligen Wirkungen positive Kenntnis erhalten hat[258]. Daneben gilt unabhängig von der Kenntniserlangung eine absolute Ausschlussfrist von 30 Jahren nach Herstellung des dem Plan entsprechenden Zustands. Diese Regelung ist in zweierlei Hinsicht bedenklich. Zum einen gibt es für die Dauer dieser Frist keine sachliche Rechtfertigung. Eine solche wäre die Orientierung an der möglichen Vorhersehbarkeit der Auswirkungen eines Fachplanungsvorhabens. Doch dies ist ersichtlich nicht der Anknüpfungspunkt, da sich Prognosen etwa über die Entwicklung des Verkehrsaufkommens kaum für längere Zeiträume