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In neuerer Zeit wurde in der so genannten Betuweroute-Entscheidung sogar die Unabhängigkeit des Staatsrats in Frage gestellt.[130] Die Streitfrage dieses Falles betraf die doppelte Rolle des Staatsrats im niederländischen Verfassungsrecht. Während der Staatsrat gemäß der Verfassung die Regierung bei der Ausarbeitung neuer Gesetzentwürfe maßgeblich unterstützen soll, fungiert ein Senat des Staatsrats, nämlich der Verwaltungsrechtssenat, nach wie vor als Berufungsinstanz im Verwaltungsverfahren. Von Klägerseite wurde vorgebracht, dass diese doppelte Rolle des Staatsrats eine Verletzung von Art. 6 EMRK darstelle. Das Straßburger Gericht kam tatsächlich zu dem Ergebnis, dass Zweifel an der Unparteilichkeit des Rates bestehen. Dennoch wurde entschieden, dass die allgemeine Beteiligung des Staatsrats an der Gesetzgebung sehr wohl von konkreten Entscheidungen des Staatsrats im Verwaltungsverfahren getrennt werden könne und somit keine Verletzung von Art. 6 EMRK vorliegt.
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Da die niederländische Verfassung keine Regelungen bezüglich des Prozessrechts enthält, wurde Art. 6 EMRK tatsächlich zur wichtigsten Rechtsquelle für einige Grundrechte. Das bestärkte die Auffassung, dass die niederländische Verfassung zusammen mit der EMRK einen so genannten „Verfassungsverbund“ bildet.[131] Die Kostovski-Entscheidung setzt sich beispielsweise mit der Frage auseinander, ob die Vernehmung anonymer Zeugen im Strafverfahren eine Verletzung von Art. 6 EMRK darstellt. Der Gerichtshof entschied, dass eine Verletzung der EMRK vorliegt,[132] woraufhin die Niederlande ein neues Gesetz zum Schutz von Zeugen in Strafverfahren verabschieden mussten.
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IV. Zusammenfassung
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Die niederländische Verfassung ist eine der völkerrechtsfreundlichsten Verfassungen in Europa. Diese Offenheit ist auf die Tradition der Niederlande als kleiner aber bedeutsamer Handelsstaat zurückzuführen, der nur über unzureichende Mittel zur Verteidigung seiner Sicherheit verfügt. Dies erklärt die Tatsache, dass die Niederlande seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften in den 1950er Jahren bis heute das Europäische Gemeinschaftsrecht sowie die auf der Europäischen Menschenrechtskonvention basierende Rechtsprechung bereitwillig annehmen. In der Grundsatzentscheidung Van Gend & Loos aus dem Jahr 1963 hatte die niederländische Regierung gegen die unmittelbare Wirkung der in Frage stehenden Vertragsbestimmung protestiert. Die ablehnende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs wurde dennoch wie in allen nachfolgenden Fällen ohne Widerwillen anerkannt.
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Obwohl die Art. 93 und 94 Grondwet sowohl die unmittelbare Anwendbarkeit als auch den Vorrang von unmittelbar wirksamen Vertragsbestimmungen (einschließlich denen der EMRK) und von Beschlüssen internationaler Organisationen regeln, gelten sie nach allgemeiner Auffassung nicht für die Stellung des Europarechts in der niederländischen Rechtsordnung. Infolge von neueren Entscheidungen der niederländischen Gerichte wurde sogar über die Anwendbarkeit von Art. 93 und 94 Grondwet in anderen Bereichen des Völkerrechts wie beispielsweise dem internationalen Umweltrecht diskutiert.
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Dagegen fand eine verfassungsrechtliche Diskussion zum Europarecht praktisch nicht statt. Während der Ratifikationsverfahren konzentrierte sich das Parlament in den Debatten auf inhaltliche Streitfragen und auf die von der Regierung durchzuführenden Maßnahmen und weniger auf verfassungsrechtliche Probleme. Jedes Mal, wenn verfassungsrechtliche Fragen auftraten, entschied man, dass die europäischen Verträge im Ergebnis nicht von den Verfassungsbestimmungen abweichen, so dass keine parlamentarische Zustimmung mit Zweidrittelmehrheit erforderlich war.
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Die Möglichkeit, gemäß Art. 91 Abs. 3 Grondwet von Verfassungsbestimmungen abzuweichen, ist in der Tat eine Besonderheit des niederländischen Verfassungsrechts. Diese Bestimmung findet jedoch aufgrund der allgemeinen Offenheit der Verfassung gegenüber dem Völkerrecht nur in Ausnahmefällen Anwendung.
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Bis vor kurzem wurde allgemein angenommen, dass diese Offenheit gegenüber dem Europarecht einen festen Rückhalt in der politischen Einstellung der niederländischen Staatsbürger findet. Das Thema „Europa“ war niemals besonders beliebt und selbst an den Parlamentsdebatten beteiligte sich nur eine geringe Anzahl von Spezialisten. Dennoch entschieden sich 61,5% der wahlberechtigten Niederländer am 1. Juni 2005 in dem ersten (nichtbindenden) Referendum in der Geschichte der Niederlande gegen die Ratifikation des Vertrags über eine Verfassung für Europa.[133] Aus demoskopischen Untersuchungen geht hervor, dass dieses Ergebnis zum größten Teil auf eine allgemeine Unzufriedenheit mit der Politik der Regierung zurückzuführen ist. Die Gründe reichen von der Überregulierung, der Arbeitslosigkeit, den Haushaltskürzungen sowie den großen Einkommensunterschieden bis zu einem allgemein „kälteren sozialen Klima“. Im Hinblick auf Europa scheint die Auffassung vorzuherrschen, dass die Niederlande gegenüber den größeren Ländern in Europa, wie Deutschland und Frankreich, an Einfluss verlieren, dass die Nachteile der Mitgliedschaft in der EU die Vorteile überwiegen (insbesondere weil die Niederlande Netto-Zahler sind), dass die EU-Bürokratie kaum zu bewältigen ist und zuviel kostet, und dass die EU sich immer weiter in Richtung eines Bundesstaates entwickelt, der schließlich das Ende der Niederlande als unabhängiger Staat bedeuten würde.[134] Die Volksabstimmung bot einen Anlass, der allgemeinen Unzufriedenheit sowohl im Hinblick auf die nationalen wie die europäischen Regierungsstrukturen Ausdruck zu verleihen. Es ist noch zu früh, um die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die traditionelle Offenheit der Niederlande gegenüber der Europäischen Union beurteilen zu können. Tatsache ist jedoch, dass der europäische Integrationsprozess von der großen Mehrheit der politischen Elite nach wie vor unterstützt wird. Ihrer Meinung nach stellt die Annahme einer Europäischen Verfassung einen notwendigen Schritt im europäischen Integrationsprozess dar. Sie scheinen jedoch noch vor der Aufgabe zu stehen, die Öffentlichkeit in den Niederlanden davon zu überzeugen, dass es nach wie vor gute Gründe für die offene Haltung der Niederlande gibt und diese heute vielleicht sogar wichtiger ist als jemals zuvor.
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Bibliographie
C. W. A. M. Aarts/H. van der Kolk (Hg.), Nederlanders en Europa: het referendum over de Europese Grondwet, 2005 |
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T. L. Bellekom, Koopmans’ Compendium Staatsrecht, 2002 |
L. F. M. Besselink, The Constitutional Duty to promote the Development of the International Legal Order: The Significance and Meaning of Article 90 of the Netherlands Constitution, Netherlands Yearbook of International Law 2003, S. 89 |
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