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Art. 91 Abs. 3 Grondwet findet nur Anwendung, wenn ein Vertrag von Bestimmungen der Verfassung abweicht.[78] Was aber ist mit dem Begriff „Abweichung“ gemeint? Weder aus der Verfassung, deren Entstehungsgeschichte noch aus irgendeinem anderen Gesetz oder aus den Stellungnahmen von Parlament und Regierung ergeben sich klare Kriterien zur Beurteilung der Frage, ob ein Vertrag Regelungen enthält, die von den Bestimmungen der Verfassung abweichen bzw. eine solche Abweichung erforderlich machen. Das ist auf eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers zurückzuführen.[79] Die einzige aus der Entstehungsgeschichte der Verfassung ableitbare Einschränkung liegt in der Auffassung des Verfassunggebers, der zufolge Art. 91 Abs. 3 Grondwet nur bei Abweichungen von konkreten und bestimmten Verfassungsbestimmungen angewendet werden soll.
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Wann aber enthält ein Vertrag Regelungen, die von den Bestimmungen der Verfassung abweichen bzw. eine solche Abweichung erforderlich machen? Um diese Frage zu beantworten, ist eine Unterscheidung notwendig zwischen Verträgen, die gegen ein außerhalb des Geltungsbereichs der Verfassung liegendes Grundprinzip verstoßen einerseits, und andererseits solchen, die von dem Inhalt der Verfassung selbst abweichen. Der Geltungsbereich der Verfassung ist durch das (geschriebene und ungeschriebene) Völkerrecht begrenzt. Wenn ein Vertrag den Geltungsbereich der Verfassung bezüglich eines Gegenstandes begrenzt, in dem die Verfassung selbst Rechtsgeltung reklamiert, dann kann die Zustimmung zu dem Vertrag nur gemäß Art. 91 Abs. 3 Grondwet erfolgen. Ist jedoch ein Gegenstand betroffen, welcher nicht durch die Verfassung geregelt ist, kann die Zustimmung zu dem Vertrag auch ohne die besonderen Voraussetzungen des Art. 91 Abs. 3 Grondwet erteilt werden. Eine derartige Situation liegt oft vor, da die Verfassung über ihren eigenen Geltungsbereich so gut wie keine Aussagen macht. Demnach könnte die Regierung einen Vertrag mit Deutschland über die Abtretung eines Teils der Niederlande abschließen, ohne dass Art. 91 Abs. 3 Grondwet zur Anwendung kommen würde, da dieser Gegenstand nicht von der Verfassung geregelt ist.[80] Die rechtliche Anerkennung der niederländischen Landesgrenzen und damit deren Festlegung erfolgt durch das Völkerrecht und nicht durch die niederländische Verfassung. Das heißt nicht, dass die Frage nach dem Geltungsbereich der Verfassung keinerlei Bedeutung hätte. Sie muss aber wegen ihrer Unbestimmtheit an konkreten Bestimmungen[81] festgemacht werden, bevor sie im Verhältnis zu Art. 91 Abs. 3 Grondwet herangezogen werden kann.[82]
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Andererseits gibt es Verträge, die von dem Inhalt der Verfassung selbst abweichen. Bei der Festlegung, ob ein solcher Fall vorliegt, sollte die Frage, ob das Königreich an einen Vertrag gebunden werden kann, dessen Inhalt von Verfassungsbestimmungen abweicht, von der Frage nach der konkreten Abweichung von einer Verfassungsbestimmung unterschieden werden.[83]
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In vielen Fällen weichen die Verträge nur scheinbar von dem Inhalt der Verfassung ab. Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass viele Verfassungsbestimmungen nur die niederländische Gesetzgebung betreffen.[84] Wenn die Verfassung zum Beispiel die Regelung eines bestimmten Gegenstandes an den formellen Gesetzgeber delegiert, bedeutet das lediglich, dass die autonomen Gesetzgebungsorgane der niedrigeren Ebene keine Befugnisse in diesem Bereich haben. Dies hat aber keine Auswirkungen auf die Frage, ob dieser Gegenstand auch durch Vertrag geregelt werden kann.[85] Daher kann ein Vertrag grundsätzlich nicht von den die innerstaatliche Gesetzgebung betreffenden Bestimmungen der Verfassung abweichen. Diesen Standpunkt nahm der Hoge Raad bereits in seinem Urteil vom 25. Mai 1906 ein, in dem er ausführte, dass derartige Verfassungsbestimmungen nur in Bezug auf die innerstaatliche Gesetzgebung anwendbar sind und für das Völkerrecht keinerlei Bedeutung haben.[86] Seit diesem Urteil ist unbestritten, dass Verträge von Verfassungsbestimmungen immer dann nicht abweichen, wenn sie einen von der Verfassung an den niederländischen Gesetzgeber delegierten Gegenstand betreffen.[87] In der Tat war der Ausgangspunkt der Verfassungsänderung des Jahres 1953 nicht, die Handlungsmöglichkeiten und Interessen des Königreichs auf internationaler Ebene einzuschränken. Da dies indes der Fall wäre, wenn dem Abschluss vieler völkerrechtlicher Verträge eine Verfassungsänderung vorausgehen müsste, entschied sich der verfassungsändernde Gesetzgeber dafür, der Stellung der Niederlande auf internationaler Ebene Vorrang einzuräumen, indem er ein relativ einfaches Verfahren vorsah, das die Ratifikation von völkerrechtlichen Verträgen, die von der Verfassung abweichen, gestattete. Dies beschränkt die Anzahl der Gegenstände, die nur nach einer Verfassungsänderung völkervertragsrechtlich geregelt werden können.[88] Ein mögliches Beispiel hierfür wären die Grundrechte. In dem parlamentarischen Zustimmungsverfahren zu den Verfassungsänderungen im Jahr 1953 vertrat die Regierung die Auffassung, dass die Grundrechte beachtet werden müssten und dass die Zustimmung zu von diesen Rechten abweichenden Verträgen ausschließlich gemäß Art. 91 Abs. 3 Grondwet erfolgen könne.[89] Der Staatsrat[90] sowie die Regierung[91] sind der Auffassung, dass einige dieser Rechte von so grundlegender Bedeutung sind, dass die Zustimmung zu Verträgen, die diese Rechte verletzen, niemals, nicht einmal auf Grundlage von Art. 91 Abs. 3 Grondwet, erfolgen kann.[92] Im Ergebnis weicht also ein Vertrag nur dann von Bestimmungen der Verfassung ab bzw. macht eine solche Abweichung erforderlich, wenn er gegen Bestimmungen der Verfassung verstößt, die den Geltungsbereich der Verfassung eingrenzen oder für die Völkerrechtsordnung von Bedeutung sind, sowie wenn Grundrechtsschutz gewährleistende Bestimmungen verletzt sind. Zudem muss bei der Beurteilung des Inhalts einer Verfassungsbestimmung sowie deren möglicher Verletzung auf Sinn und Zweck der jeweiligen Norm abgestellt werden.[93]
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Damit ist jedoch noch kein Kriterium zur Beurteilung möglicher Verfassungsverstöße gegeben.[94] Liegt möglicherweise ein Verfassungsverstoß vor, so beschließt das Parlament entweder (mit einfacher Mehrheit), dass der Vertrag nicht von den Bestimmungen der Verfassung abweicht, oder es stimmt diesem mit einer Zweidrittelmehrheit zu. Dieses Verfahren wird in der Praxis nur sehr selten angewandt.[95] Ungeachtet dessen kann jedoch nur mit Hilfe dieses Verfahrens festgestellt werden, ob Verträge auf der Grundlage von Art. 120 Grondwet verfassungsgemäß sind, der folgendermaßen lautet: „Der Richter beurteilt nicht die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verträgen.“ Demzufolge ändert sich nach der Annahme eines Vertrages nichts, wenn sich nach der Vertragsannahme herausstellen sollte, dass der Vertrag gegen die Verfassung verstößt und dieser nicht mit Zweidrittelmehrheit angenommen wurde. Nach allgemeiner Ansicht ist der Beschluss des Parlaments unwiderruflich.[96] Dies gilt jedoch nicht für den Fall, dass sich nach einer ohne Anwendung von Art. 91 Abs. 3 Grondwet erfolgten Zustimmung herausstellt, dass der Vertrag von Bestimmungen der Verfassung abweicht bzw. eine solche Abweichung erforderlich macht. Nach der herrschenden Meinung muss in diesem Fall die Zustimmung zu dem Vertrag nachgeholt werden, und zwar unter Anwendung von Art. 91 Abs. 3 Grondwet.[97]
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Was aber geschieht, wenn sich die drei am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe (Regierung, Erste und Zweite Kammer des Parlaments) bezüglich der Frage nicht einig sind, ob möglicherweise von Bestimmungen der Verfassung abgewichen wird? Schließlich besteht die Gefahr, dass diese zu gegensätzlichen und daher nicht zu vereinbarenden Ergebnissen kommen. Was würde beispielsweise geschehen, wenn die Zweite Kammer einem Vertrag mit einfacher Mehrheit zustimmt, da sie keinen Verfassungsverstoß feststellen konnte, die Erste Kammer demgegenüber feststellt, dass ein Verstoß gegen die Verfassung vorliegt? Nach Auffassung des Staatsrats enthält die Verfassung diesbezüglich klare Regelungen. Folgende Szenarien hält er für denkbar:[98] In dem ersten Szenario nimmt die Regierung eine Position ein, die sich von der Auffassung beider Parlamentskammern unterscheidet. In diesem