JURIQ-Klausurtipp
Folgen Sie der herrschenden Theorie vom relativen Wesensgehalt, bedeutet dies für Sie in der Fallbearbeitung, dass Sie nach der Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Frage der Verletzung des Wesensgehalts allenfalls – bei entsprechenden Anhaltspunkten im Sachverhalt – noch kurz auf den Wesensgehalt eingehen können bzw. müssen. Keinesfalls sollten Sie die ohnehin selten praktisch relevant werdende Problematik des Wesensgehalts aber überbewerten.
c) Grundrechtsverwirkung
154
Grundrechte können schließlich auch verwirkt werden. Die Grundrechtsverwirkung ist in Art. 18 GG abschließend geregelt. Sie ist Ausdruck des Prinzips der „streitbaren Demokratie“, die auf Selbstverteidigung angelegt ist.[81] Art. 18 GG enthält damit kein Grundrecht, sondern eine Grundrechtsbeschränkung.[82] Verwirkt werden können nur die in Art. 18 S. 1 GG genannten Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden gemäß Art. 18 S. 2 GG durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen. Das einschlägige Verfahren, das ggf. mit der Feststellung der Verwirkung von Grundrechten durch das Bundesverfassungsgericht endet, ist in Art. 93 Abs. 1 Nr. 5 GG, § 13 Nr. 1 i.V.m. §§ 36 ff. BVerfGG näher geregelt.
155
In der Praxis ist es sehr schwer, den Nachweis einer Grundrechtsverwirkung zu führen. Dieser Umstand und das sehr umständliche Verfahren gemäß §§ 36 ff. BVerfGG sind ursächlich dafür, dass Art. 18 GG praktisch ohne Bedeutung geblieben ist.[83] Eine Verwirkung von Grundrechten ist – soweit ersichtlich – bis heute nicht ausgesprochen worden. Vor diesem Hintergrund dürfte die Relevanz des Art. 18 GG für die Fallbearbeitung entsprechend gering sein.
2. Vorbehaltlos gewährleistete Freiheitsrechte
156
Im Gegensatz zu den unter Gesetzesvorbehalt stehenden Freiheitsrechten werden einige Freiheitsrechte nach ihrem Wortlaut vorbehaltlos gewährleistet (z.B. Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG). Dies bedeutet jedoch nicht, dass die vorbehaltlos verbürgten Freiheitsrechte schrankenlos garantiert sind. Eine generelle Beschränkungsmöglichkeit von Grundrechten gebietet bereits der Grundsatz der Einheit der Verfassung.[84] Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts und der herrschenden Lehre unterliegen die vorbehaltlos gewährleisteten Freiheitsrechte verfassungsimmanenten Schranken in Gestalt anderer verfassungsrechtlich verbürgter Rechtspositionen.[85] Das vorbehaltlos gewährleistete Grundrecht kann somit durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden. Dies gilt jedoch nicht für die Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG. Sie ist das einzige Grundrecht, das auch nicht durch kollidierendes Verfassungsrecht einschränkbar ist. Dies folgt bereits aus dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG („unantastbar“).
157
Als kollidierendes Verfassungsrecht kommen insbesondere Grundrechte Dritter und sonstige Rechtsgüter von Verfassungsrang in Betracht. Zu letzteren gehören z.B. Verfassungsgrundsätze (etwa die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Art. 20 Abs. 1 GG) oder Staatszielbestimmungen (etwa der Tierschutz in Art. 20a GG) und nach nicht unbestrittener Ansicht des Bundesverfassungsgerichts[86] auch reine Kompetenznormen (z.B. Art. 70 ff. GG). Ein weiteres, wichtiges und prüfungsrelevantes Beispiel für kollidierendes Verfassungsrecht ist Art. 7 Abs. 1 GG. Diese Bestimmung garantiert die Schulhoheit des Staates. Sie berechtigt die öffentliche Gewalt u.a., die Ausbildungs- und Unterrichtsziele sowie die Ausbildungs- und Unterrichtsinhalte festzulegen.
Beispiel
Ein Landesgesetzgeber ergänzt sein Schulgesetz um eine Bestimmung, nach der Schülerinnen und Schüler aus religiösen Gründen nur anlässlich religiöser Feiertage vom Unterricht befreit werden dürfen. Diese Befreiung darf nicht für mehr als zwei Kalendertage pro Schuljahr erteilt werden. Mit dieser neuen Regelung soll insbesondere die Integration von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund gefördert werden. – Das vorbehaltlos gewährleistete Grundrecht der Schülerinnen und Schüler auf Glaubensfreiheit kann nur durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden. Als solches kommt die in Art. 7 Abs. 1 GG gewährleistete staatliche Schulhoheit des Staates in Betracht.
158
Zwischen den widerstreitenden verfassungsrechtlich geschützten Rechtspositionen ist im Wege der praktischen Konkordanz ein gerechter Ausgleich herzustellen mit dem Ziel, die widerstreitenden Verfassungsrechtsgüter zur jeweils optimalen Wirksamkeit zu bringen. In unserem Beispiel oben (Rn. 157) könnte die in Art. 7 Abs. 1 GG gewährleistete staatliche Schulhoheit die Glaubensfreiheit der Schülerinnen und Schüler einschränken. Der Staat ist kraft seiner Schulhoheit u.a. berechtigt, die Ausbildungs- und Unterrichtsziele und die Ausbildungs- und Unterrichtsinhalte festzulegen sowie das Unterrichtswesen zu organisieren. Hierunter fällt auch die Befugnis, zur Sicherstellung eines geregelten Schulablaufs und zur besseren Integration von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund Regelungen zu treffen, wann Unterrichtsbefreiungen aus religiösen Gründen erteilt werden dürfen. Dieser Befugnis des Staates steht das Grundrecht der Schülerinnen und Schüler auf Glaubensfreiheit gegenüber. Dieses garantiert den Schülerinnen und Schülern, einen Glauben zu haben, ihn zu bekennen und nach ihm zu leben. Daher kann ihre Grundrechtsausübung die Befreiung von bestimmten verpflichtenden Schulveranstaltungen erforderlich machen. Diese verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter sind im Wege der praktischen Konkordanz in einen gerechten Ausgleich zu bringen. Der grundrechtlichen Gewährleistung der Glaubensfreiheit als einem sehr persönlichen, der Menschenwürde nahestehenden Grundrecht wird nicht Genüge getan, wenn Schülerinnen und Schüler aus religiösen Gründen allein anlässlich religiöser Feiertage vom Unterricht befreit werden können. Die Schulhoheit muss gegenüber der für die Entfaltung der Persönlichkeit wichtigen Glaubensfreiheit zurücktreten. Das Grundrecht der Schülerinnen und Schüler auf Glaubensfreiheit wird somit durch die staatliche Schulhoheit unangemessen eingeschränkt und demnach verletzt.
3. Maßnahme der Exekutive oder der Judikative
159
Steht nicht der Eingriff in den Schutzbereich eines Freiheitsrechts durch einen parlamentarischen Rechtsetzungsakt, sondern durch einen Rechtsanwendungsakt, d.h. durch eine Maßnahme der Exekutive oder der Judikative (z.B. Rechtsverordnung, Satzung, Verwaltungsakt oder gerichtliche Entscheidung), in Rede, verläuft die Prüfung der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung anders. Im Vordergrund der Prüfung steht hier die Frage, ob die Maßnahme der Exekutive oder der Judikative, d.h. der Rechtsanwendungsakt, verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Wegen des rechtsstaatlichen Vorbehalts des Gesetzes muss die Maßnahme der Exekutive oder der Judikative ihrerseits auf einem verfassungsmäßigen Parlamentsgesetz beruhen und selbst verfassungsgemäß sein. Es empfiehlt sich, diese Prüfung in drei Schritten vorzunehmen:
JURIQ-Klausurtipp
Beachten Sie, dass gerade hier Prüfungsschemata lediglich eine Orientierungshilfe bieten und keinesfalls starr angewendet werden dürfen, denn gerade bei der Überprüfung von Rechtsanwendungsakten kommt es maßgeblich auch darauf