c) Ausnahme
117
Wie gesehen, kommt für die Lösung von Grundrechtskonkurrenzen grundsätzlich die lex specialis-Regelung zur Anwendung. Abgesehen von der im Verhältnis zwischen Freiheits- und Gleichheitsrechten gegebenen Idealkonkurrenz (oben Rn. 116) gilt dieser Grundsatz vor allem bei den speziellen Freiheitsrechten allerdings nicht ausnahmslos. Wenn derselbe Lebenssachverhalt den Schutzbereich mehrerer Grundrechte desselben Grundrechtsträgers eröffnet, müssen die Grundrechte nicht immer im Verhältnis lex specialis/lex generalis stehen. Es kann durchaus vorkommen, dass ein Lebenssachverhalt den Schutzbereich mehrerer Grundrechte desselben Grundrechtsträgers eröffnet, die in Idealkonkurrenz zueinander stehen.
Beispiel
Bei einer Versammlung ist das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG selbständig neben Art. 8 Abs. 1 GG anwendbar, weil nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die versammlungsspezifischen Tätigkeiten des Art. 8 GG zwingend auf den Zweck der (öffentlichen) Meinungsbildung und Meinungskundgabe gerichtet sind.[37] Wird ein Versammlungsverbot erwogen, muss es somit auch am Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG gemessen werden (s. auch unten Rn. 325, 456).
JURIQ-Klausurtipp
Stehen mehrere Grundrechte nebeneinander, beginnen Sie Ihre Prüfung mit dem Grundrecht, das den stärksten Schutz bietet. Welches der möglicherweise verletzten Grundrechte den stärksten Schutz bietet, erkennen Sie an den Schranken der betreffenden Grundrechte. Ein schrankenlos gewährleistetes Grundrecht (z.B. Art. 4 Abs. 1 GG) genießt stärkeren Schutz als ein nur unter Gesetzesvorbehalt garantiertes Grundrecht (z.B. Art. 12 Abs. 1 GG; Art. 8 Abs. 1 GG). Ein hoheitlicher Eingriff ist bei mehreren einschlägigen Grundrechten nur dann verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn er die Anforderungen erfüllt, die das am stärksten geschützte Grundrecht aufstellt. Stehen z.B. die Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG nebeneinander, ist eine staatliche Maßnahme nur dann gerechtfertigt, wenn sie den Anforderungen des Art. 4 Abs. 1 GG genügt. Ihre Prüfung beginnen Sie demnach mit Art. 4 Abs. 1 GG. Bei nebeneinander stehenden und mit unterschiedlichen Schranken ausgestatteten Grundrechten prüfen Sie ausnahmsweise das Grundrecht mit dem stärksten Schutz zuerst, auch wenn es vielleicht nicht das sachnächste Grundrecht ist (vgl. hierzu oben Rn. 69).
2. Teil Grundlagen › B. Grundrechte als Freiheitsrechte in der Fallbearbeitung › III. Eingriff in den Schutzbereich des Freiheitsrechts
III. Eingriff in den Schutzbereich des Freiheitsrechts
118
Ist der Schutzbereich eines Freiheitsrechts eröffnet, prüfen Sie nun, ob die Maßnahme der öffentlichen Gewalt in den Schutzbereich des Freiheitsrechts eingreift. Dabei gehen Sie in zwei Schritten vor:
JURIQ-Klausurtipp
Beachten Sie in der Fallbearbeitung unbedingt zwei Punkte:
1. | Sprechen Sie unter dem Prüfungspunkt „Eingriff“ nicht bereits von einer Verletzung eines Grundrechts! Ob eine Grundrechtsverletzung vorliegt, ist erst das Ergebnis Ihrer gesamten Prüfung. Eine Verletzung ist gegeben, wenn und soweit ein hoheitlicher Eingriff in ein Grundrecht verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt und daher unzulässig ist. |
2. | Benennen Sie den möglichen Eingriffsakt konkret. |
1. Vorliegen eines Eingriffs
119
Nicht jede belastende Maßnahme der öffentlichen Gewalt stellt einen Eingriff in den Schutzbereich eines Freiheitsrechts dar. Ein Eingriff liegt vielmehr nur dann vor, wenn er eine bestimmte Qualität aufweist. Sog. „Bagatelleingriffe“ weisen diese Eingriffsqualität nicht auf.
Beispiel
Die Stadt A verstärkt die Polizeipräsenz auf ihren Straßen in der Innenstadt, um die Kleinkriminalität effektiver zu bekämpfen. Zu diesem Zwecke setzt sie verstärkt Streifenbeamte zu Fuß, auf dem Fahrrad und auf dem Pferd ein. Der Rentner T, der in der Innenstadt wohnt und sich oft draußen aufhält, fühlt sich durch die sichtbar verstärkte Polizeipräsenz in seinen Grundrechten verletzt. – In Betracht käme allenfalls eine Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit des T. Der Schutzbereich dieses Grundrechts ist zwar eröffnet; es liegt aber kein relevanter Eingriff in dieses Grundrecht vor, so dass eine Grundrechtsverletzung zu verneinen ist. Daran ändert sich auch dadurch nichts, dass sich T persönlich belästigt fühlt.
120
Beim Begriff des Eingriffs ist zwischen dem klassischen Eingriffsbegriff und dem neuen Eingriffsbegriff zu unterscheiden.
a) Klassischer Eingriffsbegriff
121
Nach dem klassischen Eingriffsbegriff liegt ein Eingriff vor, wenn er final, unmittelbar, durch Rechtsakt sowie mit Befehl und Zwang gegenüber dem Einzelnen angeordnet bzw. durchgesetzt wird.
Der klassische Eingriffsbegriff hat demnach vier Voraussetzungen:[38] „Finalität“ bedeutet, dass die staatliche Maßnahme gezielt, also beabsichtigt, freiheitsverkürzend wirken soll. – „Unmittelbar“ wirkt ein Rechtsakt, wenn er direkt auf die Herbeiführung bestimmter (belastender) Rechtsfolgen bei den Grundrechtsberechtigten gerichtet ist, es also nicht erst noch eines Vollzugsaktes bedarf, um die beabsichtigten Rechtsfolgen herbeizuführen. – „Rechtsakt“ sind z.B. Parlamentsgesetze, Rechtsverordnungen, Satzungen, Verwaltungsakte, Gerichtsentscheidungen etc. – „Mit Befehl und Zwang“ kennzeichnet die beim klassischen Eingriffsbegriff typische Imperativität des staatlichen Handelns.
Beispiel
Die Eheleute S haben ohne Baugenehmigung ein kleines Wochenendhaus in einem Naturschutzgebiet in Nordrhein-Westfalen gebaut. Nach einigen Jahren bemerkt die zuständige Baubehörde dies und verfügt den Abriss des Hauses. – Die Abrissverfügung ist ein Verwaltungsakt i.S.d. § 35 S. 1 VwVfG NW. Als imperativer Hoheitsakt zielt er darauf ab, die Eheleute S in ihren Grundrechten zu beeinträchtigen. Dies geschieht unmittelbar, da die Abrissverfügung keines weiteren Vollzugsaktes bedarf, um gegenüber S rechtliche Wirkung zu entfalten.
JURIQ-Klausurtipp
Eine ausführlichere Prüfung der Begriffsmerkmale des klassischen Eingriffsbegriffs sind nur dann notwendig, wenn eines der Merkmale tatsächlich problematisch sein sollte (z.B. die Finalität der staatlichen Maßnahme). Ansonsten ist eine ausführlichere Prüfung entbehrlich. Es genügt dann vielmehr, den Eingriff unter Benennung des konkreten Eingriffsaktes zu bejahen.
b) Neuer Eingriffsbegriff
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Angesichts der heute vielfältigen