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Ob ein wirksamer Grundrechtsverzicht vorliegt, prüfen Sie in zwei Schritten: Im ersten Schritt prüfen Sie, ob der Grundrechtsberechtigte zur Disposition über das jeweilige Grundrecht befugt ist. Dabei ist zu differenzieren: Einige Grundrechte sind bereits nach ihrem Wortlaut ausdrücklich vom Willen des Grundrechtsberechtigten abhängig. Diese Grundrechte sind verzichtbar. So ergibt z.B. ein Umkehrschluss aus Art. 6 Abs. 3 GG, dass Kinder mit dem Willen der Erziehungsberechtigten von der Familie getrennt werden dürfen. Bei anderen Grundrechten bringt der Verfassungstext dagegen zum Ausdruck, dass ein Verzicht ausgeschlossen ist. Diese Grundrechte sind für den Berechtigten nicht disponibel. So sind gemäß Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG Abreden, die die Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG einschränken oder zu behindern suchen, nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen rechtswidrig. Im Übrigen müssen Sie bei jedem einzelnen Grundrecht prüfen, ob ein Verzicht auf die Ausübung des Grundrechts in Betracht kommt. Um dies herauszufinden, untersuchen Sie die Funktion des jeweiligen Grundrechts. In unserem Beispiel oben (Rn. 129) steht das Grundrecht der M auf körperliche Unversehrtheit in Rede. Bei ihm handelt es sich seiner Funktion nach um ein primär klassisches Freiheitsrecht, das auf die Abwehr staatlicher Eingriffe gerichtet und auf dessen Gewährleistung verzichtet werden kann.
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Eine generelle Grenze für die Abgabe eines wirksamen Grundrechtsverzichts ist stets dann erreicht, wenn der Menschenwürdegehalt des Berechtigten betroffen ist, weil die Menschenwürde nicht zur Disposition des Einzelnen steht (s.u. Rn. 182).
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Wenn und soweit der Grundrechtsberechtigte zur Disposition über das jeweilige Grundrecht befugt ist, gehen Sie im zweiten Schritt der Frage nach, ob eine ausdrückliche oder konkludente Verzichtserklärung des Grundrechtsberechtigten vorliegt. Ob dies der Fall ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Auf jeden Fall muss eine eindeutige Erklärung vorliegen.[47] In unserem Beispiel oben (oben Rn. 129) hat sich M ausdrücklich mit der Blutentnahme einverstanden erklärt. Dies stellt eine eindeutige Erklärung dar; demnach liegt eine Verzichtserklärung vor. Die Verzichtserklärung muss außerdem wirksam abgegeben werden. Dies ist der Fall, wenn sie freiwillig erfolgt.[48] Daran fehlt es, wenn ohne den Verzicht gewichtige Nachteile entstehen.[49] In unserem Beispiel hat sich M freiwillig in diesem Sinne mit der Blutentnahme einverstanden erklärt. Der Freiwilligkeit steht nicht entgegen, dass vom (positiven) Ergebnis der amtsärztlichen Untersuchung die Ernennung der M als Richterin auf Probe abhängt. Durch die Pflicht, sich vor der Ernennung amtsärztlich untersuchen zu lassen, entsteht bei M kein faktischer Zwang, den Verzicht erklären zu müssen. Zweifel an der Freiwilligkeit des Verzichts wären daher unbegründet. Sollte die Ausübung eines Grundrechts mehreren Personen zustehen (z.B. denkbar bei Art. 13 GG), setzt eine wirksame Verzichtserklärung nach herrschender Meinung voraus, dass die Verzichtserklärung von allen Grundrechtsberechtigten abgegeben wird.[50]
JURIQ-Klausurtipp
Verwechseln Sie den Grundrechtsverzicht nicht mit einem Nichtgebrauch von Grundrechten. Ein Nichtgebrauch liegt vor, wenn der Berechtigte sein Grundrecht tatsächlich nicht ausübt. Dies ist z.B. der Fall, wenn ein Einzelner davon absieht, einem privatrechtlichen Verein beizutreten.
2. Teil Grundlagen › B. Grundrechte als Freiheitsrechte in der Fallbearbeitung › IV. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs
IV. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs
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Liegt ein Eingriff in den Schutzbereich eines Freiheitsrechts vor, heißt dies noch nicht, dass dieses Freiheitsrecht verletzt ist. Eine Grundrechtsverletzung liegt vielmehr nur vor, wenn und soweit der Eingriff in den Schutzbereich des Freiheitsrechts verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt und damit unzulässig ist. Die Prüfung im Einzelnen richtet sich danach, ob in den Schutzbereich eines unter Gesetzesvorbehalt stehenden Freiheitsrechts oder eines vorbehaltlos gewährleisteten Freiheitsrechts eingegriffen wird.
1. Freiheitsrechte unter Gesetzesvorbehalt
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Bei Freiheitsrechten unter Gesetzesvorbehalt prüfen Sie die verfassungsrechtliche Rechtfertigung in drei Schritten:
a) Beschränkbarkeit des Freiheitsrechts („Schranke“)
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Die meisten Freiheitsrechte stehen unter einem Gesetzesvorbehalt. Bei diesen Freiheitsrechten können die grundrechtlichen Gewährleistungen „durch Gesetz“ oder „aufgrund eines Gesetzes“ eingeschränkt werden. Wegen des rechtsstaatlichen Vorbehalts des Gesetzes ist ein solcher Grundrechtseingriff aber nur zulässig, wenn ein formelles Gesetz, d.h. ein Parlamentsgesetz, den Grundrechtseingriff vorsieht.[51] Je nach Gesetzgebungszuständigkeit (Art. 70 ff. GG) kann es sich bei dem formellen Gesetz um ein Bundes- oder ein Landesgesetz handeln.[52]
Hinweis
Es gibt auch Grundrechte, die verfassungsunmittelbaren Schranken unterliegen (z.B. Art. 9 Abs. 2 GG). Bei ihnen wird der Eingriff unmittelbar auf das Grundgesetz gestützt; ein formelles Gesetz als Eingriffsgrundlage ist hier nicht notwendig.
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Freiheitsrechte können einem sog. einfachen Gesetzesvorbehalt oder einem sog. qualifizierten Gesetzesvorbehalt unterliegen.
aa) Einfacher Gesetzesvorbehalt
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Ein einfacher Gesetzesvorbehalt liegt vor, wenn der Wortlaut des betreffenden Freiheitsrechts für den Grundrechtseingriff nur verlangt, dass der Eingriff „durch Gesetz“ oder „aufgrund eines Gesetzes“ erfolgt, und an das eingreifende Gesetz damit keine besonderen Anforderungen stellt.[53]
Beispiel
Art. 8 Abs. 2 GG sieht vor, dass Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden können.
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Die Formulierung „durch Gesetz“ bedeutet, dass das Grundrecht durch ein selbstvollziehendes formelles Gesetz eingeschränkt werden kann. Sieht ein Grundrecht demgegenüber die Einschränkungsmöglichkeit „aufgrund eines Gesetzes“ vor, bedeutet dies, dass Eingriffe, die auf ein formelles Gesetz gestützt sind, zulässig sind. So kann ein formelles Gesetz die Exekutive dazu ermächtigen, selbst Grundrechtseinschränkungen vorzunehmen, vor allem in Form von materiellen Gesetzen (Rechtsverordnungen, Satzungen).[54]
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Ob und ggf. inwieweit ein Eingriff in den Schutzbereich eines Freiheitsrechts aufgrund eines Gesetzes überhaupt zulässig ist, bestimmt sich nach der sog. Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts (s. dazu Skript „Staatsorganisationsrecht“). Nach ihr muss der parlamentarische Gesetzgeber die für die Ausübung der Grundrechte wesentlichen Entscheidungen selbst treffen. Wird die Wesentlichkeitstheorie nicht beachtet, ist der Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts allein aus diesem Grunde bereits verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt und damit unzulässig.