Ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt liegt vor, wenn der Wortlaut des betreffenden Freiheitsrechts für den Grundrechtseingriff nicht nur verlangt, dass der Eingriff „durch Gesetz“ oder „aufgrund eines Gesetzes“ erfolgt, sondern zusätzlich besondere Anforderungen an das eingreifende Gesetz stellt.[55] Eingriffe sind hiernach nur unter bestimmten Voraussetzungen (vgl. z.B. Art. 11 Abs. 2 GG „… für die Fälle eingeschränkt werden, in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden …“), zu bestimmten Zwecken (vgl. z.B. Art. 5 Abs. 2 GG „…, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend …“) oder mit bestimmten Mitteln (vgl. Art. 5 Abs. 2 GG „… in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, …“) zulässig.[56]
b) Verfassungsrechtliche Grenzen der Beschränkung des Freiheitsrechts („Schranken-Schranken“)
141
Die oben (Rn. 135 ff.) dargestellten Gesetzesvorbehalte erlauben es der Legislative, selbst in die Grundrechte einzugreifen bzw. die Exekutive oder die Judikative zu Eingriffen in die Grundrechte zu ermächtigen. Nachdem Sie in einem ersten Schritt die Beschränkbarkeit des Freiheitsrechts („Schranke“) festgestellt haben, prüfen Sie nun in einem zweiten Schritt, ob die verfassungsrechtlichen Grenzen dieser Beschränkbarkeit bei dem Grundrechtseingriff im konkreten Fall eingehalten wurden („Schranken-Schranken“).
aa) (Formelle und materielle) Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes
142
Das Parlamentsgesetz, das den legislativen Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts selbst bewirkt bzw. die Exekutive oder die Judikative zu einem Eingriff ermächtigt, muss (formell und materiell) verfassungsgemäß sein. Die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes prüfen Sie nach der üblichen Vorgehensweise (s. Skript „Staatsorganisationsrecht“).[57] Im Folgenden sollen zwei besonders relevante Prüfungspunkte hervorgehoben werden:
Hinweis
Bei der Prüfung der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Eingriffen in den Schutzbereich von Freiheitsrechten durch Gesetz ist die Bestimmtheitsprüfung üblicherweise eine Frage der materiellen Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes.[58]
bb) insbesondere: Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
143
Bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Parlamentsgesetzes untersuchen Sie im Rahmen der materiellen Verfassungsmäßigkeit insbesondere, ob das Gesetz verhältnismäßig in das Freiheitsgrundrecht eingreift. Denn der Gesetzgeber muss bei seinem Eingriff das sog. Übermaßverbot beachten.
JURIQ-Klausurtipp
Dieser Prüfungspunkt bildet das Kernstück vieler Fallbearbeitungen. Deshalb sollten Sie diesem Punkt besondere Aufmerksamkeit widmen! Zum Gegenstück des Übermaßverbotes, dem Untermaßverbot, s.o. Rn. 41.
144
Die Verhältnismäßigkeit ist ein ungeschriebener verfassungsrechtlicher Grundsatz, der nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (auch) für den grundrechtseinschränkenden Gesetzgeber gilt.[59] Der Gesetzgeber ist nicht völlig frei, wie weit er unter Gesetzesvorbehalt stehende Grundrechte einschränkt. Vielmehr ist er aufgrund des Übermaßverbotes verpflichtet, Begrenzungen bei Einschränkungsmöglichkeiten zu beachten. Damit besteht zwischen dem einschränkenden Gesetz und der hierdurch eingeschränkten Freiheitsgarantie eine Wechselwirkung dergestalt, dass das Gesetz, das ein Freiheitsrecht einschränken kann, seinerseits im Lichte dieses Freiheitsrechts ausgelegt werden muss (sog. Wechselwirkungslehre).[60] Um diesem Erfordernis zu genügen, muss der Gesetzgeber einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen der grundrechtlichen Gewährleistung und dem Eingriff in das Grundrecht herstellen. Die Verhältnismäßigkeit prüfen Sie in vier Schritten: Im ersten Schritt untersuchen Sie, ob das eingreifende Gesetz einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck verfolgt. Der Gesetzgeber hat bei der Bestimmung des Gesetzeszwecks einen weiten Gestaltungsspielraum mit der Folge, dass sich der Gesetzeszweck nicht unbedingt aus der Verfassung ergeben muss. Verfolgt er mit einem Gesetz mehrere Zwecke, muss zumindest einer dieser Zwecke verfassungsrechtlich legitim sein.
Steht ein Gesetz zur Überprüfung beim Bundesverfassungsgericht an, ist umstritten, ob es alle denkbaren Zwecke oder nur den- oder diejenigen Zweck(e) berücksichtigen darf, den/die der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes vor Augen hatte. Das Bundesverfassungsgericht bezieht im Zweifel auch solche Zwecke in seine Prüfung ein, die der Gesetzgeber selbst nicht in Betracht gezogen hat.[61]
145
Liegt ein verfassungsrechtlich legitimer Zweck vor, prüfen Sie im zweiten Schritt, ob das Gesetz zur Erreichung dieses Zwecks geeignet ist. Geeignet ist das Gesetz, wenn es den verfassungsrechtlich legitimen Zweck fördert, indem es überhaupt etwas zur Erreichung des Gesetzeszwecks beiträgt.[62] – Ist dies der Fall, gehen Sie im dritten Schritt der Frage nach, ob das Gesetz zur Erreichung des Zwecks erforderlich ist. Erforderlichkeit ist gegeben, wenn es zur Erreichung des Zwecks kein milderes, aber ebenso effektives Mittel gibt.[63] – Bejahen Sie die Erforderlichkeit des Gesetzes, prüfen Sie im vierten Schritt die Angemessenheit bzw. Zumutbarkeit des Gesetzes (sog. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne). Ein Gesetz ist angemessen bzw. zumutbar, wenn dieses Gesetz und der mit ihm verfolgte verfassungsrechtlich legitime Zweck in einem „recht gewichteten und wohl abgewogenen Verhältnis“ zueinander stehen.[64] Es ist also eine eigenständige Gewichtung und Abwägung durchzuführen.[65]
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Bei der Frage der Angemessenheit des Gesetzes kommt es auf Ihre Argumentation an. Alle für und gegen das Gesetz sprechenden Interessen fließen in die Abwägung ein. Für Sie bedeutet das, alle denkbar relevanten Interessen möglichst konkret herauszuarbeiten. Sodann werden die verschiedenen Interessen nach dem Grad ihrer Beeinträchtigung gewichtet.
146
Bei der Prüfung der Angemessenheit bzw. Zumutbarkeit eines Eingriffs nimmt das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen mitunter eine sog. „Schutzbereichsverstärkung“ vor. Das Gericht prüft an dieser Stelle dann weitere Grundrechte, die (mangels Eröffnung des Schutzbereichs oder mangels Eingriffs) selbst nicht verletzt sind, mit.
Hinweis
Das Bundesverfassungsgericht setzt bei der Schutzbereichsverstärkung das unmittelbar einschlägige Grundrecht und das nur mittelbar einschlägige Grundrecht in Verbindung zueinander und benennt die Grundrechte ausdrücklich mit „Art. … GG i.V.m. Art. … GG“.
Beispiel 1[66]
Die Beschlagnahme von Datenträgern eines Rechtsanwalts wurde vom Bundesverfassungsgericht in erster Linie am Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemessen, dabei wurde aber die Berufsfreiheit des Rechtsanwalts mitberücksichtigt, obgleich ein berufsspezifischer Eingriff nicht vorliegt.
Beispiel 2[67]
Das Schächten wurde vom Bundesverfassungsgericht in erster Linie an der Berufsfreiheit des muslimischen Metzgers (türkischer Staatsangehöriger) nach Art. 2 Abs. 1 GG gemessen, der Aspekt der Glaubensfreiheit wurde im Rahmen der Berufsfreiheit mitberücksichtigt.