Die Bewertung der Beweggründe in Bezug auf die Tat als verachtenswert hat aufgrund einer Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe maßgeblichen Faktoren – für jeden Beteiligten gesondert –[142] zu erfolgen.[143] Dabei können neben Tatumständen und Lebensverhältnissen des Täters[144] namentlich seine Persönlichkeit bestimmende Faktoren berücksichtigt werden (vgl. Rn. 74).[145] Niedrig sind die Beweggründe dann, wenn sie menschlich nicht mehr verständlich sind.[146] Diese (restriktive) Würdigung gibt Gelegenheit, die Taten „abzuschichten“, bei denen die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe unverhältnismäßig wäre. Das entscheidende Kriterium besteht darin, ob zwischen dem Anlass der Tat und ihren Folgen ein unerträgliches, d.h. besonders krasses Missverhältnis besteht.[147]
Beispiele:
A erschießt einen Stadtstreicher aus Verärgerung darüber, dass dieser seinen „Stammplatz“ unter einer Brücke trotz eines einige Tage zuvor durch A ausgesprochenen „Platzverweises“ nicht verlassen hat.[148]
B tötet den ihm unbekannten C und verbrennt dessen Leiche in seinem Auto, um auf diese Weise selbst als tot zu gelten und beruflich wie privat ein „neues Leben“ beginnen zu können.[149]
D erschießt seine Schwägerin E, um zu verhindern, dass deren von ihm verursachte Schwangerschaft bekannt wird.[150]
F wird bei einer Geschwindigkeitskontrolle mit seinem Fahrzeug „geblitzt“. Um ein Bußgeldverfahren gegen sich zu verhindern, erschießt er den Polizisten G.[151]
H ersticht I, weil diese sich nicht auf ein Gespräch mit ihm eingelassen hat.[152]
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Ein solches Missverhältnis ist erst recht in Fällen zu bejahen, in denen das Opfer zu den wutauslösenden Frustrationen des Täters nichts beigetragen (sog. Inkonnexität)[153] oder der Täter dessen ihm unerträglich erscheinendes Verhalten durch vorangegangenes Tun selbst herbeigeführt hat.
Beispiele:
A möchte ein illegales Autorennen gewinnen. Deshalb fährt er mit mehr als 160 km/h trotz roten Ampelsignals in eine innerorts gelegene Kreuzung ein. Sein Fahrzeug kollidiert mit demjenigen des sich regelkonform verhaltenden B. Dieser stirbt infolge schwerster Verletzungen noch am Unfallort.[154]
C steckt einen Gegenstand mehrere Zentimeter tief in den After eines bis dahin ruhig liegenden Säuglings. Als dieser infolge der Schmerzen laut zu weinen beginnt und es C nicht gelingt, ihn zu beruhigen, schüttelt und schlägt C ihn mehrfach, so dass er stirbt.[155]
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Als weitere Beispiele niedriger Beweggründe kommen insbesondere Tatmotive wie Wut, Hass und Rachsucht,[156] ebenso Neid und übersteigerte Eifersucht,[157] „besonders krasse Selbstsucht“,[158] Missachtung des personellen Eigenwerts des zum beliebigen Objekt degradierten Opfers[159] sowie Ausländerfeindlichkeit[160] – wobei es genügt, dass der Täter sich die rassistischen Beweggründe anderer zu eigen macht –[161] in Betracht.
Beispiele:
A ist in einem gegen sich geführten Strafverfahren vom Zeugen B wahrheitsgemäß belastet worden. Um diesen hierfür zu „bestrafen“, ersticht A ihn.[162]
Mit demselben Ziel erschießt C seinen Bekannten D, weil dieser seine Schulden nicht zurückgezahlt hat.[163]
E tötet F, die Mutter des gemeinsamen Kindes, um dieses „allein zu besitzen“.[164]
G wirft ihr neugeborenes Kind in einen Graben, weil sie „noch etwas erleben“ und für ein Kind noch keine Verantwortung übernehmen will.[165]
Da seine Freundin I sich von ihm trennen will, erwürgt H sie, damit „sie kein anderer bekommen könne“.[166]
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Beachte:
Derart negativ besetzte Motive tragen die Annahme niedriger Beweggründe zwar oft, aber nicht notwendig. Vielmehr ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in einem gesonderten Prüfungsschritt festzustellen, ob sie ihrerseits auf einer niedrigen Einstellung des Täters beruhen[167] oder es sich ausnahmsweise in der konkreten Tatsituation um eine menschlich verständliche Reaktion handelt,[168] die Tat beispielsweise aus tiefer Verzweiflung und innerer Ausweglosigkeit heraus oder als Reaktion auf eine erhebliche Beleidigung oder Drohung begangen wurde.
Beispiele:
A ist von B verlassen worden. Er ist darüber so verzweifelt, dass er sie erschießt und sich anschließend durch einen Schuss in den Kopf selbst schwere Verletzungen zufügt.[169]
C ersticht D, nachdem diese ihm mit der Begründung, er „sei ohnehin impotent“, ihre Absicht mitgeteilt hat, sich von ihm zu trennen.[170]
E tötet F mittels einer Morphininjektion, weil dieser ihr gedroht hatte, dafür zu sorgen, dass sie ihre „gesamte berufliche, wirtschaftliche und soziale Existenz“ verliert.[171]
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Vergleichbares gilt auch bei einer Tatbegehung aus sog. politischen Gründen.[172] Im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung wird allerdings die Erwägung von ausschlaggebender Bedeutung sein, dass in einer Demokratie (auch) politische Konflikte – jenseits eines sich aus Art. 20 Abs. 4 GG ergebenden Widerstandsrechts – grundsätzlich gewaltfrei auszutragen sind.[173] Aus niedrigen Beweggründen handelt jedenfalls, wer aus terroristischen Motiven gezielt an der politischen Auseinandersetzung Unbeteiligte tötet.[174] Dasselbe gilt dann, wenn das Opfer allein wegen seiner Zugehörigkeit zu einer politischen, sozialen oder ethnischen Gruppe quasi als deren „Repräsentant“ getötet wird.[175]
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Ähnlich den auf die objektiven Merkmale bezogenen subjektiven Anforderungen (vgl. Rn. 53 f.) müssen dem Täter die Umstände bewusst sein, die die Niedrigkeit seiner Beweggründe ausmachen.[176] Dies bedarf namentlich bei Spontantaten genauerer Prüfung.[177] An der genannten Voraussetzung kann es etwa fehlen, wenn der Täter unter dem Einfluss starker emotionaler oder triebhafter Regungen stand, sofern er nicht in der Lage war, diese Antriebe gedanklich zu beherrschen und willentlich zu steuern,[178] etwa infolge einer erheblichen Persönlichkeitsstörung.[179] Es ist allerdings nicht erforderlich, dass der Täter sein Vorgehen aufgrund der bekannten Umstände selbst als verwerflich bewertet.[180]
Vertiefungshinweis:
Der Maßstab für die Bewertung eines Beweggrundes ist grundsätzlich den Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland und nicht den Anschauungen einer Volksgruppe, die die rechtlichen und sittlichen Werte dieser Rechtsgemeinschaft nicht anerkennt, zu entnehmen.[181] Deshalb wird das Motiv der sog. Blutrache regelmäßig als niedrig einzustufen sein, wenn allein die Verletzung eines Ehrenkodex als todeswürdig angesehen oder ein Angehöriger einer Sippe als Vergeltung für das Verhalten eines anderen Sippenangehörigen, an dem ihn keine persönliche Schuld trifft, getötet wird.[182] Das Bewusstsein niedriger Tatumstände kann allerdings in besonderen Ausnahmefällen fehlen, wenn der aus einem völlig anderen Kulturkreis stammende Täter noch derart stark von den Vorstellungen und Anschauungen seiner Heimat beherrscht wird, dass er sich von ihnen zur Tatzeit aufgrund seiner Persönlichkeit und der gesamten Lebensumstände nicht lösen konnte.[183] Dies wird jedoch meistens zu verneinen sein, wenn er bereits längere Zeit in Deutschland lebt[184] oder sogar dort aufgewachsen ist.[185]
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Bei einem